Die Spitzen der sächsischen CDU und SPD traten am Mittwochnachmittag mit ernsten Gesichtern vor die Presse im Dresdner Landtag; die Rhetorik unterstützte den Staat. Im Lieferumfang enthalten ist ein 110-seitiger Vertrag zwischen beiden Parteien. Der Titel: „Mutig neue Wege gehen“. Das Projekt: eine erfolgreiche Minderheitsregierung. Beide Parteien loben ihr Dokument sehr. Wir haben in den letzten Wochen die ganze Nacht daran gearbeitet. Es sei „ein beeindruckendes Werk“ entstanden, für das er „sehr dankbar“ sei, sagt er Michael KretschmerPremierminister des Freistaates.
Auch Kretschmer und seine SPD-Verhandlungspartner können an diesem Nachmittag nicht ignorieren: In der sächsischen Politik ist derzeit nichts einfach. Kretschmer und er hatten im September die Landtagswahl CDU Obwohl sie knapp vor der AfD gewann, ist von der Selbstverständlichkeit, mit der die Union jahrzehntelang in Sachsen regieren konnte, nicht mehr viel übrig geblieben.
Zunächst gab es in Sachsen, wie auch in Brandenburg und Thüringen, ein Bündnis der CDU, SPD
und BSW waren die erste Wahl, man sondierte die Dinge gemeinsam – doch dann scheiterten die Verhandlungen. Die Leute gaben sich gegenseitig die Schuld für das Scheitern.
Seit Mitte November wird am nächsten Anlauf gearbeitet: einem Minderheits-Groco. Dem Plan zufolge soll im Landtag ein Vernehmlassungsverfahren eingeführt werden, bei dem Gesetzesentwürfe allen Parteien zur Abstimmung vorgelegt werden. Wie das im Einzelnen funktionieren wird, ist noch unklar. „Für die Arbeit einer Minderheitsregierung liegen in Sachsen keine Erfahrungen vor. Diese Regierungsform ist für uns alle etwas Neues“, heißt es in der Präambel des Vertrags zwischen CDU und SPD.
Die Zeit wird knapp
Eine Notlösung, die beide Partner auch als Chance sehen, „in unserem Land eine neue politische Kultur zu etablieren“. Jetzt gehe es darum, „sich auf die Sache zu konzentrieren und einen Kompromiss zu suchen“, sagt SPD-Chef Henning Homann. Die bekanntesten Projekte in Koalitionsvertrag: Die Zahl der Staatsbediensteten soll reduziert werden. Für langfristige Investitionen sollte es einen Spezialfonds geben. Dazu kommen verstärkte Grenzkontrollen und ein Pilotprojekt „Abschiebungen“.
Aber der Allianz fehlt etwas Entscheidendes. „Wir haben keine eigene Mehrheit“, sagt Kretschmer. Gemeinsam belegen CDU und SPD 51 von 120 Sitzen im Landtag – zehn Stimmen fehlen. Die Minderheitsgroko muss sich nun um Unterstützung für ihre Minderheitskoalition und ihren Vertrag bemühen. Und natürlich für die Wahl des Premierministers, die voraussichtlich am 18. oder 19. Dezember stattfinden wird. Ein heikles Unterfangen, denn es ist noch völlig unklar, wo sich Mehrheiten finden werden. Ob es genügend Stimmen für Kretschmer als Ministerpräsidenten geben wird.
Ein Scheitern können sich Kretschmer und seine Mini-Groko jedenfalls kaum leisten, denn die Zeit drängt. Sollte bis Anfang Februar, vier Monate nach der Konstituierung des Landtags, kein neuer Ministerpräsident gewählt werden, kommt es zur Auflösung des Landtags. Dann drohen Neuwahlen.
Heute Nachmittag gaben CDU und SPD bekannt, an welche Parteien sie in den nächsten Tagen zu Gesprächen herantreten wollen: BSW, Linke und Grüne. Auch Vertreter dieser Parteien werden heute Nachmittag in den Landtagsfluren stehen und den Vorträgen lauschen. Die ersten Reaktionen: skeptisch. Ob und zu welchen Preisen sie dem zustimmen werden, wird sich in den nächsten zwei Wochen zeigen.
Kretschmer geht auf die Grünen zu
Die Linken sind nicht grundsätzlich abgeneigt, die Minderheit Groko und Kretschmer zu unterstützen, allerdings unter Bedingungen. Bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen soll es keine Abstriche im sozialen und kulturellen Bereich geben, die Kommunen besser ausgestattet werden und zivilgesellschaftliche Strukturen erhalten bleiben. Dem geplanten Konsultationsverfahren werde man unter Vorbehalt zustimmen. „Wir akzeptieren, dass die Regierung auch die AfD über ihre Pläne informieren will. Aber sobald sie ihren Einfluss auf Entscheidungen geben würde, wären wir raus“, sagt Susanne Schaper, Fraktionschefin der Linkspartei Sachsen.
Auch das Bündnis von Sahra Wagenknecht knüpft Unterstützung an Bedingungen. Allerdings fallen die ersten Reaktionen auf den hier vorgestellten Vertrag eher negativ aus. „Im Koalitionsvertrag stehen viele blumige Worte, aber leider nichts Konkretes“, sagt die sächsische BSW-Chefin Sabine Zimmermann. Es gebe zu wenige „Maßnahmen zur Eindämmung der irregulären Migration“ und auch mit den Finanzierungsplänen für Kommunen, Infrastruktur, Bildung und Krankenhäuser sei man unzufrieden. „Sachsen ist in einer schwierigen Situation, die diese Regierung mit diesem Koalitionsvertrag nicht in den Griff bekommen wird“, sagt Zimmermann.
Neue Töne sind heute Nachmittag von Michael Kretschmer in Richtung der Grünen zu hören. In den vergangenen Monaten ließ er sich kaum eine Gelegenheit entgehen, heftig gegen die bisher regierende Koalitionspartei vorzugehen. Im Wahlkampf waren die Grünen einer seiner Hauptfeinde. Sie forderten daraufhin eine Entschuldigung von ihm – was Kretschmer bisher ablehnte. Doch nun schlägt er einen sanften Ton der Versöhnung an. Ihm sei bewusst, dass es „Verletzungen“ seitens der Grünen gegeben habe, über die gesprochen werden müsse. Franziska Schubert, sächsische Fraktionschefin der Grünen, sagt, man wolle sich den Gesprächen unter Demokraten nicht verschließen. Sie sagt aber auch: „Ich finde es lächerlich und dreist, einen Koalitionsvertrag ohne eigene Mehrheit vorzulegen.“ Es bleibt abzuwarten, ob ihre Partei Kretschmer unterstützen wird und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Eine Wahl Kretschmers zum Ministerpräsidenten kommt für die Grünen im ersten Wahlgang nicht in Frage. „Im zweiten Wahlgang werden wir das Ganze dann je nach Kandidaten bewerten.“
Wird es weitere Kandidaten geben?
In den Parteien kursieren unterschiedliche Szenarien, wie die Ministerpräsidentenwahl ablaufen könnte. Dass Kretschmer im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen wird, scheint unwahrscheinlich. Im zweiten Wahlgang würde ihm eine einfache Mehrheit genügen – aber wird es eine geben? Wird es weitere Bewerber geben? Bisher trat nur Kretschmer als Kandidat auf. Ein möglicher zweiter Kandidat könnte Matthias Berger, ehemaliger Bürgermeister von Grimma, sein. Er errang ein Direktmandat der Freien Wähler und sitzt als fraktionsloser Abgeordneter im Landtag. Berger, der sagt, er rede mit „jedem“, ließ auf die Frage, ob er auch kandidieren würde, offen. Dies möchte er derzeit weder bestätigen noch dementieren. Er werde aber auf keinen Fall für Kretschmer stimmen, sagt er, „nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Landtag herrscht große Unzufriedenheit mit dem, was die Landesregierung geliefert hat.“
Die sächsische AfD hat nur eine kurze, vernichtende Stellungnahme zum geplanten Vertrag zwischen CDU und SPD abgegeben. „Diese Anti-AfD-Koalition wird fünf Jahre nicht überleben“, erklärt der sächsische AfD-Chef Jörg Urban. CDU und SPD präsentierten „einen visionslosen und schwachen Koalitionsvertrag. Es geht ihnen nur um den Machterhalt und nicht um die Zukunft Sachsens.“ Ansonsten schweigt die Partei derzeit auffällig zum Geschehen im Landtag. Wird sie ihren eigenen Kandidaten nominieren? Anderen unterstützen? Zu den Plänen werde man sich voraussichtlich in der kommenden Woche äußern, mehr sagte ein Sprecher der AfD-Fraktion auf Nachfrage jedoch nicht. Die AfD verfügt über 40 Sitze im Sächsischen Landtag. Genug Einfluss, um Chaos zu verursachen.