Berlin taz | Der Kampf um die Deutungshoheit hat begonnen. Seit die Bundesregierung am Donnerstag ihre Reform der Bürgerrente vorgestellt hat, die nun Grundsicherung heißen soll, wird darüber debattiert, wie tiefgreifend die Änderungen tatsächlich sind. „Bürgergeld ist Geschichte“, jubelte CSU-Chef Markus Söder während der Pressekonferenz.
Unionsfraktionschef Jens Spahn will sogar eine „neue Ära der Arbeitsmarktpolitik“ erkennen. SPD-Chefin Bärbel Bas hingegen verteidigte den Kompromiss am Freitag, auch gegen Kritik ihrer Jusos. Durch neue Sanktionsmöglichkeiten würden die Mitwirkungspflichten lediglich „verschärft“.
Experten sind in ihrer Einschätzung zurückhaltender. „Für eine Einschätzung ist es noch zu früh“, sagt Joachim Wolff, der am Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) in Nürnberg zu Bürgergeld und Grundsicherung forscht. Wie schwerwiegend die angekündigten Sanktionen letztlich im Gesetzestext ausfallen und wie sie dann in der Praxis umgesetzt werden, geht aus dem Konzept der Bundesregierung nicht hervor.
So ist beispielsweise unklar, wie die Regierung die Tatsache umsetzen will, dass bei mehrfach unterlassener Anmeldung die Kosten für die Unterbringung nicht ausgezahlt werden. Werden die Zahlungen nur vorübergehend eingestellt und zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend ausgezahlt – beispielsweise wenn ein Leistungsempfänger erneut zu einem Termin beim Jobcenter erscheint? Die Bundesregierung meint das wohl so – und die Jobcenter machen das in der Praxis bereits regelmäßig so.
Zurück zu Hartz
Oder handelt es sich tatsächlich um eine Streichung der Übernachtungskosten? Das sei juristisch nur schwer umzusetzen, sagt Experte Wolff: „Man kann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht zurücknehmen.“ Das Gericht entschied 2019, dass Sanktionen, die bis zum Existenzminimum reichen, enge Grenzen haben.
Von der Antwort auf diese Frage hängt auch ab, ob die Reform im schlimmsten Fall dazu führen könnte, dass mehr Menschen ihre Wohnung verlieren. Bundeskanzler Friedrich Merz beruhigte in der ARD: „Niemand wird in Deutschland obdachlos sein.“
Ist die neue Grundsicherung nun das alte Hartz IV, wie die einen kritisieren und die anderen hoffen? Ganz so klar ist das nicht. „Ein Kompromiss ist bereits erkennbar“, sagt Experte Wolff. Die verschärften Sanktionen, insbesondere bei fehlenden Besetzungen, erinnerten teilweise an die ursprünglichen Hartz-Reformen.
Doch in einem anderen Punkt dürften sich die SPD und die Befürworter des Bürgergeldes durchgesetzt haben: Leistungsberechtigte müssen wohl nicht Arbeit um jeden Preis annehmen. Bei der Vorstellung der Reform am Donnerstag sagte Bundeskanzler Merz, der „Vorrang der Mediation sei zurück“. Im Gegensatz dazu bietet die Reform den Jobcentern auch in Zukunft die Möglichkeit, sich auf die Berufsausbildung und Qualifizierung zu konzentrieren, anstatt Menschen zur Arbeitsaufnahme zu zwingen.
Qualifikation gegen Hilfsbedürftigkeit
„Qualifizierung kann im Einzelfall der bessere Weg sein, um langfristig aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen“, sagt Wolff, „weil qualifizierte Arbeit besser bezahlt wird.“ Dabei dürfte eine Errungenschaft aus Bürgergeldern weitgehend erhalten bleiben.
Für Personen, die mehrere Stellenangebote ablehnen, plant die Bundesregierung eine weitere Änderung. Bereits heute können diese oft als „Totalverweigerer“ diffamierten Personen durch Sanktionen möglicherweise ihr gesamtes Regelwerk verlieren. Dies soll künftig nach Ablehnung des ersten Stellenangebots geschehen.
Es ist jedoch fraglich, ob dies rechtlich umsetzbar ist. Um den Anforderungen des Verfassungsgerichtshofs gerecht zu werden, ist die aktuelle Regelung aus der Zeit der Ampelregierung so kompliziert, dass sie in der Praxis kaum angewendet wird. Wolff legte dazu kürzlich eine Studie vor und stellte bundesweit nur eine „niedrige zweistellige Fallzahl“ fest.
Sanktionen können helfen
Grundsätzlich zeigen Forschungsergebnisse jedoch, dass Sanktionen tatsächlich dazu führen können, dass Menschen schneller eine Arbeit aufnehmen, auch wenn sie selbst nicht davon betroffen sind. Allerdings könnten zu hohe Sanktionen laut IAB-Experten kontraproduktiv wirken. Wer so stark sanktioniert wird, dass er anschließend beispielsweise Probleme mit der Bezahlung seiner Stromrechnung hat, ist weniger motiviert, sich einen Job zu suchen.
Die Bundesregierung hatte jüngst angekündigt, Langzeitarbeitslose künftig stärker und mit „hoher Kontaktdichte“ betreuen zu wollen. Wolff begrüßt dieses Vorhaben, stellt aber fest: „Dafür sind zusätzliche Personal- und Ressourcenkapazitäten bei den Jobcentern erforderlich.“ Es ist ungewiss, ob die Bundesregierung, deren Chef gerne behauptet, er könne Bürgergelder in Milliardenhöhe einsparen, dafür Geld bereitstellt.