Kiew nimmt erneut eine Raffinerie ins Visier. Die Angriffe auf Russlands Wirtschaft im Ukraine-Krieg zeigen Wirkung, doch für Putin könnte es noch schlimmer kommen.
Moskau – Mit den wiederholten Angriffen auf die russische Energieinfrastruktur hat Kiew den Ukraine-Krieg endgültig nach Russland getragen. Der Kreml ist wegen der wirtschaftlichen Schäden bereits in Aufruhr. Präsident Wladimir Putin ruft nun sogar Reservisten auf, um Raffinerien im russischen Hinterland vor ukrainischen Drohnen zu schützen. Allerdings könnten die Ereignisse der letzten Wochen einfach Symptome eines viel größeren Problems sein: Putin dürfte sich langfristig Sorgen um seine Kriegskasse machen.
Das russische Militär hat bisher mit der Massenrekrutierung von Reservisten in 20 Regionen begonnen, um deren Infrastruktur vor Kiews Drohnenterror zu schützen. Das berichtet sie Kiewer Post. Erst letzte Woche hat Putin ein neues Gesetz verabschiedet, das den Einsatz von Rekruten für diesen Zweck ermöglicht. Der Kreml kann sich daher auf fast zwei Millionen Rekruten verlassen, vor allem um Raffinerien vor Angriffen zu schützen.
Russlands Wirtschaft steht in Flammen: Kiew greift erneut Raffinerie im Hinterland an
Ein jüngster Angriff der Ukraine auf das russische Hinterland zeigt, wie schwierig das Unterfangen sein dürfte. Wie das Portal Kiewer Unabhängiger Berichten zufolge war eine Ölraffinerie in der russischen Region Saratow am Dienstagabend (11. November) das Ziel eines ukrainischen Angriffs. Das russische Militär sagte, es habe acht Drohnen in der Region abgefangen. Der Generalstab in Kiew sagte, in der Anlage seien Explosionen und Brände beobachtet worden. Es war der siebte Angriff in diesem Jahr auf die Raffinerie, die dem von den USA sanktionierten Ölkonzern Rosneft gehört. Bemerkenswert an dem Angriff ist erneut die Lage des Ziels: Saratow liegt über 600 Kilometer von der Frontlinie in der Ukraine entfernt.
Für Russland reicht es nicht mehr aus, nur die Grenzregionen Belgorod und Kursk sowie die besetzte Halbinsel Krim vor ukrainischen Angriffen zu schützen. Mit Langstreckendrohnen aus Kiews eigener Produktion kann Kiew nun problemlos auch die Regionen St. Petersburg, Moskau oder die russischen Industriehochburgen im Ural angreifen. Vor diesem Hintergrund erscheint es schwierig, einen umfassenden Schutz zu gewährleisten, selbst bei zwei Millionen Rekruten.
Die Anschläge im Ukraine-Krieg zeigen Wirkung – Russland bekämpft die Wirtschaft mit Schlägen
Auch Putins entschiedene Reaktion auf die ukrainischen Angriffe kann als Indiz für deren Wirksamkeit gewertet werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte Ende Oktober gegenüber Reportern: „Wir glauben, dass die Russen mehr als 20 Prozent ihrer Ölraffinierungskapazität, etwa 22 bis 27 Prozent ihres Treibstoffs, verloren haben.“ Der Schaden für Russlands Wirtschaft ist mittlerweile so groß, dass sich aus Russland Berichte über explodierende Benzinpreise und eine Rationierung der Treibstoffvorräte häufen.
Das Magazin Auswärtige Angelegenheiten schätzt den Verlust der russischen Ölraffineriekapazität etwas konservativer auf zehn Prozent (Ende September), betont aber auch die Auswirkungen der ukrainischen Angriffe. Der Kreml musste in den letzten Wochen immer wieder in die Ölindustrie eingreifen und unter anderem „vorübergehende Benzin-Exportverbote und teilweise Diesel-Einschränkungen“ verhängen.
Die russischen Exilmedien zeigten mögliche Auswirkungen der Interventionen auf Die Moskauer Zeiten An. Dem Bericht zufolge lockerte der Kreml unter anderem die Produktionsauflagen für Erdölprodukte, um den Markt nach den ukrainischen Anschlägen zu stabilisieren. Hersteller können nun unter anderem Winterdiesel herstellen, indem sie Sommerdiesel und Kerosin mischen. Allerdings führte die Maßnahme wiederum zu einem befürchteten Mangel an Kerosin, das vor allem als Flugtreibstoff verwendet wird.
Angriffe auf Ölraffinerien in Russland: Langfristige Folgen für Putins Wirtschaft befürchtet
Doch diese Folgen könnten nur der Anfang sein. „Die tatsächlichen Auswirkungen der Angriffe der Ukraine werden sich jedoch wohl erst langfristig zeigen“, analysieren sie Auswärtige Angelegenheiten-Autoren Tatiana Mitrovan und Sergey Vakulenko. „Ein einziger Angriff wird das System nicht zerstören, aber eine anhaltende, schnelle Kampagne erhöht die Wahrscheinlichkeit von Kettenausfällen, längeren Reparaturen und zunehmenden Kapazitätsverlusten.“
Langfristig könnten die Angriffe auf die russische Wirtschaft auch Putins Kriegskasse erheblich belasten. „Um die russische Militärmaschinerie in dieser Form am Laufen zu halten, ist viel mehr Geld nötig – und das ist einfach nicht da“, sagte der im Exil lebende russische Oppositionspolitiker Wladimir Milow in einem Interview mit Kiewer Unabhängiger. Russland sieht sich sieben Jahre in Folge mit Haushaltsdefiziten von über zwei Prozent konfrontiert. Die Finanzkrise könnte sich durch westliche Sanktionen gegen Moskau weiter verschärfen. Russland bleibt von einem Großteil der internationalen Finanzmärkte ausgeschlossen und kann daher nicht auf normale Finanzierungsmöglichkeiten zurückgreifen.
Sorgen um Putins Kriegskasse – erste Auswirkungen sind an der Front bereits sichtbar
Erste Hinweise auf fehlendes Geld im russischen Militärkomplex zeichnen sich bereits ab. In den letzten Wochen haben mehrere russische Regionen die Rekrutierungsprämien für Freiwillige im Ukraine-Krieg deutlich gekürzt. Darüber hinaus hat Putin ein neues Gesetz verabschiedet, das die Einberufung von Wehrpflichtigen das ganze Jahr über ermöglicht.
Nach Ansicht von Milow wären die Auswirkungen bereits an der Front spürbar. Dem Oppositionspolitiker zufolge habe Russland den Ukraine-Krieg in den letzten Monaten nicht mehr mit der höchsten Intensität geführt. Statt teurer Panzer stehen günstigere Drohnen- und Raketenangriffe sowie punktuelle Offensiven entlang der Front im Vordergrund.
Nicht umsonst geht Putins geplanter „Drei-Tage-Krieg“ gegen das vermeintlich gefährdete Nachbarland bald in sein viertes Jahr. „Sie können diese Art von Krieg eine Zeit lang aufrechterhalten, aber die Frage ist, warum“, betonte Milow. Der Kampf gegen die russische Wirtschaft könnte sich als vielleicht größter Hebel der Ukraine im ungleichen Kampf gegen den Aggressor erweisen. (Quellen: Kyiv Post, Kyiv Indepentent, Moscow Times, Foreign Affairs, eigene Recherche) (fdu)
