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Psychologe: „Menschen überschätzen Kriminalität gewaltig“

Psychologe: „Menschen überschätzen Kriminalität gewaltig“

Die Angst vor Übergriffen hat wenig mit der tatsächlichen Kriminalität zu tun, sagt Psychologin Deliah Wagner. Sie hat eine Studie mit 5000 Probanden durchgeführt. Demnach gibt es einen entscheidenden Faktor, der dazu führt, dass Menschen Gefahren überschätzen.

Das sicherste Deutschland aller Zeiten – oder eine im Chaos versinkende Republik? Wie unterschiedlich die Einschätzung dazu von Mensch zu Mensch ausfällt, weiß Psychologin Deliah Wagner. Am Zentrum für Kriminologische Forschung Sachsen erforscht sie, wie kriminologische Realität und emotionale Wahrnehmung zusammenhängen.

WELT AM SONNTAG: Frau Wagner, wie sicher fühlen Sie sich in Deutschland?

Delia Wagner: Ganz sicher. Aber mir ist noch nie etwas passiert. Ich will nicht leugnen, dass es anders wäre, wenn ich schon einmal Opfer einer Straftat geworden wäre.

WAMS: Wenn Menschen am Hauptbahnhof oder in einem dunklen Park sagen, sie hätten Angst: Ist das irrational?

Wagner: Ich würde es nie wagen, jemandem seine Gefühle zu verleugnen. Die Angst ist wahrscheinlich gar nicht so irrational, vor allem an einem Hauptbahnhof. Hier treffen wir mehr Menschen als beispielsweise an einem Provinzbahnhof. Die Wahrscheinlichkeit, Zeuge einer Straftat zu werden, ist daher höher. Ich halte es allerdings nicht für ratsam, solche Orte zu meiden. Man sollte wachsam sein. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines körperlichen Übergriffs oder eines Sexualverbrechens zu werden, in den eigenen vier Wänden um ein Vielfaches höher ist als in der Öffentlichkeit.

WAMS: Sie haben 5.000 Menschen zu ihrer Wahrnehmung von Kriminalität befragt. Was haben Sie daraus gelernt?

Wagner: Die Kriminalität wird stark überschätzt. Wir haben uns angeschaut, wie sich die tatsächliche Kriminalität und die Wahrnehmung von Kriminalität in 355 Bezirken entwickelt haben. Fast 90 Prozent nahmen einen Anstieg der Kriminalität wahr, entgegen der tatsächlichen Entwicklung.

WAMS: Und wie steht es mit der Gewaltkriminalität? Laut Kriminalstatistik hat sie in letzter Zeit deutlich zugenommen.

Wagner: Die Menschen schätzen Gewaltkriminalität realistischer ein. Aber auch da sehen wir Fehleinschätzungen. Selbst in Bezirken, in denen die Gewaltkriminalität zurückgegangen ist, gaben die Menschen an, dass sie das Gefühl hätten, sie sei häufiger geworden.

WAMS: Welche Faktoren führen zu dieser Überschätzung?

Wagner: Unsere Studie hat gezeigt, dass es eigentlich nur einen Faktor gibt, der erklärt, warum jemand Kriminalität überschätzt: das sogenannte Vermeidungsverhalten. Wer sich zurückzieht und nicht mehr vor die Tür geht, um sich vor Kriminalität zu schützen, überschätzt diese letztlich. Es ist also nicht so, dass Menschen Orte meiden, weil sie aufgrund ihrer Erlebnisse dort Angst haben, sondern das Gegenteil ist der Fall: Menschen, die selten rausgehen, glauben, dass es dort viel gefährlicher ist, als es tatsächlich ist.

WAMS: Welche Rolle spielen dabei im Internet kursierende Gewaltdarstellungen?

Wagner: Die Wahrnehmung von Gewaltkriminalität kann durch solche Darstellungen natürlich verstärkt werden. Das Video von der Messerattacke in Mannheim war zum Beispiel sehr leicht zugänglich. Die Leute bekommen das Gefühl, es gebe immer mehr Gewalt, weil sie diese häufiger sehen als in Zeiten, als solche Videos noch nicht so weit im Internet verbreitet waren. Dieses Gefühl spiegelt sich dann auch in Aussagen von Politikern wider. AfD-Chefin Alice Weidel sagte in einem Interview, jeden Tag würden Menschen auf der Straße getötet. Das stimmt natürlich nicht.

WAMS: Untergraben soziale Medien also das Sicherheitsgefühl der Menschen?

Wagner: Die Art der Mediennutzung hat einen deutlichen Einfluss auf die Angst vor Kriminalität. Entgegen bisheriger Annahmen haben Fernsehen und Radio kaum einen negativen Einfluss. Je mehr soziale Medien und Messaging-Apps wie Telegram genutzt werden, desto größer ist die Angst.

WAMS: Haben von Migranten verübte Straftaten eine andere Wirkung auf die Bürger als Straftaten deutscher Täter?

WAGNER: Immerhin ändert sich das sogenannte Strafbedürfnis: Hatte ein Syrer eine Straftat begangen, forderten die Studienteilnehmer deutlich härtere Strafen, als wenn der Täter Deutscher gewesen wäre.

WAMS: Warum ist das so?

Wagner: Wir führen dazu gerade eine Nachuntersuchung durch. Mit Worten wie Rassismus wäre ich vorsichtig. Ich glaube, es gibt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Unbekannten. Wir tendieren dazu, uns in Gruppen zu definieren und gegenüber anderen Gruppen viel härter ins Gericht zu gehen. Das sieht man schon heute bei Fußballvereinen, wo sich zwischen einzelnen Dörfern regelrechte Feindschaften entwickeln.

Lennart Pfahler berichtet für das WELT-Rechercheteam regelmäßig über interne Sicherheitsthemen.

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