„Das“, sagte Oscar Piastri, nachdem er beim Großen Preis von Aserbaidschan als Erster die Ziellinie überquert hatte, „war wahrscheinlich der stressigste Nachmittag meines Lebens.“ Supermodel Naomi Campbell verabschiedete den McLaren-Piloten in Baku als Sieger, der 23-Jährige gewann damit zum zweiten Mal ein Formel-1-Rennen. Der Weg dorthin glich einem anderthalbstündigen Selbstverteidigungskurs, den der Australier mit Bravour absolvierte.
„Was für ein Tag“, sagte er. „Das war definitiv eines meiner besten Rennen bisher.“ Platz zwei ging nach 51 Runden (306 Kilometer) an Charles Leclerc im Ferrari vor George Russell (Mercedes). Die WM-Konkurrenten Lando Norris (McLaren) und Max Verstappen (Red Bull) belegten die Plätze vier und fünf. Nico Hülkenberg aus Emmerich (Haas) blieb auf Platz elf, nachdem er in der vorletzten Runde durch Trümmer auf der Strecke, die sein Auto beschädigten, zurückgefallen war und somit keine Punkte holte.
Verstappen in der spaßfreien Zone
Leclerc hatte am Vortag das Rennen um den Startplatz gegen Piastri gewonnen und in Baku zum vierten Mal in Folge die Pole Position geholt. Für einen Triumph am Kaspischen Meer reichte es aber nicht. Weltmeister Max Verstappen, seit sechs Rennen sieglos, haderte weiter mit seinem Auto: nur Platz sechs im Qualifying.
Das Cockpit seines RB20 bleibt für den Niederländer eine spaßfreie Zone. Erstmals seit anderthalb Jahren unterlag er sogar seinem Teamkollegen, dem zweifachen Baku-Sieger Sergio Pérez, der sich hinter Carlos Sainz (Ferrari) als Vierter qualifiziert hatte.
Piastri, der geniale Starter, konnte Leclerc im 90-Meter-Sprint zur ersten Kurve nicht attackieren. Pérez überholte Sainz, Verstappen quetschte sich an Russell vorbei. Und Lando Norris, Verstappens einziger Gegner im Kampf um den WM-Titel? Der kreiste zunächst im Niemandsland. Nur Platz 17 im Qualifying. Doch ab da hätte es für ihn leichter werden sollen.
McLaren war schon vor der Reise nach Aserbaidschan klar, dass Norris Verstappen nicht mehr einholen kann, wenn er und sein Kollege Piastri sich wie zuletzt in Monza weiter einen harten Kampf auf der Strecke liefern. Der Rückstand auf Verstappen ist noch immer beträchtlich, und für McLaren zählt jeder Punkt, um den Druck auf den Dauersieger aufrecht zu erhalten. Schließlich, so werden manche sagen, hat Teamchefin Andrea Stella die Rollen verteilt: Sie gab Norris die uneingeschränkte Lizenz zur Verfolgung und wies Piastri an, für die Verstärkung zu sorgen.
„Viele Möglichkeiten, Fehler zu machen“
Kommt der Kurswechsel zu spät? Es nützt jedenfalls nichts, wenn Norris durch eigenes Verschulden im Abseits landet. Im Rennen um den Startplatz scheiterte er bereits in der ersten Runde, weil er in der letzten Kurve den entscheidenden Versuch patzte. „Hoffentlich“, sagte Norris vor Beginn des Rennens durch die Altstadt von Baku, „gelingt mir noch ein paar Überholmanöver.“
Am Sonntag war die erste Runde noch nicht beendet, da war er schon auf Platz zwölf vorgeprescht. Die Jagd auf Verstappen begann. Die enge Strecke von Baku bietet einen Mix aus langen Geraden über sechs Kilometer, auf denen die Autos auf 350 km/h und mehr beschleunigen, und tückischen 90-Grad-Kurven: Wer nicht mit aller Kraft bremst, knallt in die Leitplanke. „In Baku gibt es viele Möglichkeiten, Fehler zu machen“, sagte Ferrari-Rennleiter Frédéric Vasseur.
Sein Fahrer Leclerc war im Freitagstraining in die Barriere gerast. Doch nun kontrollierte er auf den Medium-Reifen das Geschehen, hielt Piastri auf Distanz und lag nach einem Viertel der zu bewältigenden Distanz über vier Sekunden vorn. Norris kreiste auf Platz neun und wurde kurz darauf als rollende Schikane gefordert. Er bremste Pérez nach dessen Boxenstopp aus und half Piastri, der nach seinem Service vor dem Mexikaner blieb. Das neue Teamwork bei McLaren funktioniert. Nur eben etwas anders als geplant.
„Sie pushen wie verrückt“
Mit dem Reifenwechsel änderten sich die Kräfteverhältnisse auf der Strecke. „Sie pushen wie verrückt oder sie haben mehr Grip als wir“, funkte der führende Leclerc. Sein Vorsprung schmolz dahin, und Piastri beschleunigte auf den harten Rollen spürbar. Zu Beginn der 21. Runde überfiel er Leclerc eingangs der ersten Kurve und übernahm die Führung. „Genial“, sagte McLaren-Teamchef Andrea Stella über das meisterhaft ausgeführte Manöver des hochtalentierten Australiers: „Er kam von so weit hinten. Es war eine Freude, ihm zuzuschauen.“
Zwischen Piastri, Leclerc und Pérez entbrannte ein Dreikampf um den Sieg. So eng ging es an der Spitze der Formel 1 schon lange nicht mehr zu. Leclerc riss sich zusammen und schien seine Reifen besser zu managen als Piastri. Dessen Reifenmanagement gilt als seine größte Schwäche – über die Grand-Prix-Distanz. Leclerc holte Attacke nach Attacke. Doch Piastri parierte immer wieder. „Komm schon, Charles“, hörte Leclerc 15 Runden vor Rennende jemanden ins Ohr schreien, „mach weiter so.“
Doch er fand kein Mittel, dem Kampfgeist und den kämpferischen Fähigkeiten des Australiers etwas entgegenzusetzen. Immer wieder abgewiesen, musste er vier Runden vor Schluss mit abgefahrenen Hinterreifen akzeptieren, dass er nicht noch einmal gewinnen kann. Schlimmer noch: Hinter ihm drückten Perez und Sainz. Eine heftige Kollision der beiden, die beide nicht verletzt waren, verhalf Russell zwei Runden vor Schluss noch zu Platz drei.
Norris fand im Finale noch an Verstappen vorbei. Die drei Punkte, die er nach einem verpatzten Qualifying im Titelkampf gutmachte, helfen ihm aber wenig. Nächste Woche in Singapur muss er weiter aufholen. Noch immer beträgt sein Rückstand 59 Punkte, sieben Grand Prix und drei Kurzrennen stehen aus. Immerhin: McLaren hat in der Konstrukteurswertung Red Bull überholt.