Der „Rote Platz“ in der Stadt Kreuztal im Siegerland wird eigentlich so genannt, weil sein Boden rot gepflastert ist. Diese Woche könnte der Name kaum passender sein: Die IG Metall in Nordrhein-Westfalen bereitet sich darauf vor, am Mittwochabend auf demselben „Roten Platz“ eine Großkundgebung abzuhalten. Grund für die Wut der Gewerkschafter ist der Sanierungsplan der Stahlsparte des Industriekonzerns Thyssenkrupp. Vor rund zwei Wochen kündigte Deutschlands größter Stahlhersteller an, bis 2030 insgesamt 11.000 Stellen abbauen zu wollen, davon 6.000 durch Outsourcing. Mindestens ein Standort, der in Kreuztal-Eichen, soll komplett geschlossen werden. Hintergrund ist eine geringe Nachfrage aufgrund von Überkapazitäten auf dem Weltmarkt und der Schwäche der Automobilindustrie sowie der Druck, künftig klimafreundlich zu produzieren.
Wütende Stahlarbeiter, die um ihren Arbeitsplatz fürchten – das ist ein besonders unangenehmer Moment: Bundeskanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Im Frühjahr letzten Jahres versprach er Deutschland ein grünes Wirtschaftswunder durch die Transformation zur Klimaneutralität. Mittlerweile kommen fast täglich schlechte Nachrichten aus der Branche.
Nicht nur die Stahlindustrie steckt in der Krise, sondern auch die für den deutschen Wohlstand so wichtige Automobilindustrie. Ob Volkswagen, ZF oder Bosch: Überall werden zahlreiche Stellen abgebaut. Hinzu kommt die Insolvenz des Batterie-Start-ups Northvolt, das von deutschen Politikern mit 600 Millionen Euro gefördert wurde: Das ist für die SPD angesichts der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar besonders gefährlich. Neben stabilen Renten sind sichere Industriearbeitsplätze ihr wichtigstes Anliegen.
Viele „Gipfel“ in den letzten Wochen
Olaf Scholz hat in den vergangenen Wochen mehrfach Branchenvertreter zu Krisengesprächen nach Berlin eingeladen. Am Montag fand eine weitere Runde mit Managern und Betriebsräten aus der Stahlindustrie statt. Um einen Stellenabbau zu vermeiden, will Scholz die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld erweitern. Statt der üblichen zwölf soll es 24 Monate nutzbar sein. „Die Bundeskanzlerin wird den Bundesminister für Arbeit und Soziales bitten, dies entsprechend einzuleiten“, hieß es in einer Stellungnahme des Kanzleramts nach dem Stahltreffen. Allerdings warnte die Bundesagentur für Arbeit, die das Kurzarbeitergeld finanziert, kürzlich, dass ihre Rücklagen fast aufgebraucht seien.
Scholz sagte weiter, er wolle „die Kosten für den Stromtransport in Übertragungsnetzen gesetzlich auf drei Cent begrenzen“. Zudem sprach er sich für „Pragmatismus bei der Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff“ aus, „damit ein wirtschaftlicher Betrieb stets möglich sein kann“.
Dies dürfte eine Reaktion auf eine neue Analyse des Fraunhofer-Instituts sein, wonach Wasserstoff in Deutschland voraussichtlich teurer sein wird als irgendwo sonst auf der Welt. Der Grund liegt in der Kombination aus hoher Nachfrage und begrenzten Möglichkeiten zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Scholz will sich in Brüssel auch für mehr Schutzmaßnahmen gegen billigen ausländischen Stahl einsetzen.
Julia Klöckner spricht von „Show“
Es ist unwahrscheinlich, dass die Unternehmen vor der Neuwahl eine Entlastung bei den Energiekosten erfahren werden. CDU und CSU haben für den Fall eines Wahlsiegs eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik angekündigt. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Julia Klöckner, bezeichnete das Treffen im Kanzleramt am Montag als „Schaugipfel“. Wettbewerbsfähiger Stahl brauche „wettbewerbsfähige Energiepreise und Steuern sowie weniger Bürokratie statt immer mehr Regulierungen“.
Nach dem Treffen betonte Gunnar Groebler, Präsident des Stahlverbandes, dass die Stahlindustrie durch unlauteren Wettbewerb auf den Weltmärkten „akut bedroht“ sei. Es sei daher „ein positives Signal“, dass sich die Kanzlerin in Brüssel für einen wirksamen Außenwirtschaftsschutz einsetzen werde. Auf nationaler Ebene blieben die hohen Energiekosten das größte Problem. „Das aktuell politisch vorgeschlagene Entlastungsvolumen von 1,3 Milliarden Euro für Netznutzungsentgelte reicht nicht aus“, sagte Groebler und forderte „Planungssicherheit unabhängig von Legislaturperioden und Wahlterminen.“
Die Arbeitnehmervertreter zeigten sich jedoch grundsätzlich zufrieden mit den Zusagen von Scholz. „Der Drei-Punkte-Plan der Kanzlerin benennt die entscheidenden Themen und ist daher eine gute Ergänzung“, sagte Jürgen Kerner, zweiter Vorsitzender der IG Metall und zugleich stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender von Thyssenkrupp. Im Detail besteht allerdings Verbesserungsbedarf: „Die Deckelung der Stromnetzentgelte auf drei Cent ist ein echter erster Schritt, sollte aber nicht erst mit der nächsten Regierung umgesetzt werden.“
Auch der Vorsitzende des Thyssenkrupp-Betriebsrats, Tekin Nasikkol, äußerte sich positiv. „Auf dem Stahlgipfel hat unsere Bundeskanzlerin die Zeichen der Zeit erkannt und konkrete Maßnahmen zur Stärkung der system- und sicherheitsrelevanten Stahlindustrie versprochen“, sagte er. Erfreulich ist auch das Engagement, weitere Transformationsschritte voranzutreiben.
Milliarden für die großen Stahlkonzerne
In den Plan, die Stahlindustrie klimafreundlich zu gestalten, fließen bereits viele staatliche Gelder. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und mehrere Landeschefs haben den vier größten Stahlherstellern Fördermittel in Höhe von sieben Milliarden Euro bereitgestellt. Rund 2 Milliarden davon sind für Thyssenkrupp vorgesehen – oder genauer: zur Unterstützung einer grünen Stahlproduktion.
Künftig sollen zwei der vier Duisburger Hochöfen ersetzt werden, wie es jüngst in einem Eckpunktepapier zum Umbau der maroden Stahlsparte hieß. Damit will das Unternehmen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die klimafreundliche DRI-Anlage wird nur über eine deutlich geringere Produktionskapazität verfügen als die beiden Hochöfen. Allerdings zeichnete sich bereits in der frühen Bauphase ab, dass die Anlage voraussichtlich teurer sein würde als erwartet.
Scholz schließt einen Staatseinstieg nicht aus
Zuletzt gab es immer wieder Rufe nach mehr Hilfe. Scholz selbst schließt einen Staatseinstieg bei ThyssenKrupp nicht mehr aus. In einem Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte er: „Ich nehme jetzt keine Option vom Tisch.“ Er verwies auf die staatlichen Investitionen in die Meyer-Werft, den Gasimporteur Uniper oder die Lufthansa während der Pandemie. Ein solches Engagement sei zeitlich begrenzt und „soll dazu beitragen, dass Unternehmen Durststrecken überwinden, damit mögliche Investitionen nicht an mangelndem Eigenkapital scheitern“. Auf Nachfrage der FAZ sagte die IG Metall: „Ein Staatseinstieg bei Thyssenkrupp kann unter Umständen sinnvoll sein.“ Wichtiger ist jedoch, dass der Staat die richtigen politischen Rahmenbedingungen setzt.
Thyssenkrupp selbst will allerdings nicht unbedingt eine staatliche Beteiligung, wie das Unternehmen auf Anfrage mitteilte, sondern setzt weiterhin auf die Holding des tschechischen Milliardärs Daniel Kretinsky, um seinen 20-Prozent-Anteil an der Stahltochter weiter aufzustocken. „Unser Ziel ist ein Konzept, das für Thyssenkrupp Steel zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit und unternehmerischem Erfolg führt.“