Die Aufmerksamkeit der Welt könnte sich längst woanders verlagert haben. Doch das Drama um Nexperia ist noch nicht vorbei, der diplomatische Konflikt bleibt ungelöst. Die Regierung in Den Haag intervenierte Ende September überraschend beim niederländischen Chiphersteller, um den „Transfer wichtiger Technologien“ nach China zu verhindern. Peking reagierte mit Exportbeschränkungen für Chips, die unter anderem die deutsche Autoindustrie in Bedrängnis bringen. Seitdem liegen China und die Niederlande im Streit, auch die USA und die EU streiten.
Die jüngsten Nachrichten klingen verwirrend. Erstens stoppte Nexperia Mitte letzter Woche den Export von Wafern, einem Vorprodukt für die Chipproduktion, in eine Fabrik des Mutterkonzerns Wingtech in China. Kurz darauf sendete die US-Regierung nach einem Treffen der Präsidenten Trump und Xi positive Signale: Nexperia in China werde wieder Chips in die ganze Welt liefern. Auch Peking deutete eine Lösung an, verschärfte aber gleichzeitig seinen Ton gegenüber der niederländischen Regierung. Ihr „unzulässiges Eingreifen“ habe zu „Chaos in den globalen Produktions- und Lieferketten“ geführt. Während beide Seiten weiter verhandeln, legte Chinas Handelsministerium am Dienstag nach: Trotz wiederholter und „vernünftiger Forderungen“ habe Den Haag bisher „keine konstruktive Haltung“ gezeigt.
Bei dem Konflikt geht es auch um PR und Gesichtswahrung. Hat die niederländische Regierung, wie gelesen wurde, mit der Intervention überreagiert? Sich von den USA ausbeuten lassen? Beide Seiten verbreiten unterschiedliche Narrative über die Ereignisse. Glaubt man China, haben sich die Niederlande im globalen Duell mit dem asiatischen Rivalen zum willigen Helfer Washingtons machen lassen. Und als Wiederholungstäter: Anfang 2024 hatte die Regierung in Den Haag dem Chipmaschinenhersteller ASML die Lieferung von Hightech-Produkten nach China verboten. Der Grund war der Druck der USA, die damals noch von Joe Biden regiert wurden.
Die niederländische Version ist völlig anders. Dementsprechend spielt der Druck der USA nur eine indirekte Rolle. Im Mittelpunkt steht das unberechenbare Verhalten des entlassenen Nexperia-Chefs Zhang Xuezheng, bekannt als Wing. Der für unkonventionelle Methoden bekannte 50-Jährige stand kurz davor, einen Großteil des Unternehmens und seines Know-hows nach China zu verlagern, und musste auch im Interesse Europas gestoppt werden. Es lohnt sich, einen Blick auf die Details zu werfen, die aus Regierungsquellen in Den Haag und insbesondere aus niederländischen Medien hervorgehen NRC Handelsbladein Ministerbrief an das Parlament und eine Gerichtsentscheidung.
Bereits im Jahr 2023 hat das deutsche Wirtschaftsministerium die Nexperia-Förderung gekürzt
Die USA haben die von Wing gegründete Nexperia-Mutter Wingtech im Dezember 2024 auf eine Liste „unzuverlässiger“ Unternehmen gesetzt. Sie dürfen keine Waren, Technologie oder Software mehr aus den USA beziehen, was das Geschäft deutlich erschwert. Nach der „50-Prozent-Regel“ war bald auch Nexperia betroffen. Seit 2023 sind Den Haag, Nexperia und Wing dabei, das Unternehmen zu „europäisieren“, also in ein niederländisches Unternehmen umzuwandeln. Schließlich war offensichtlich, dass der chinesische Einfluss – Wingtech hatte 2019 das ehemals zu Philips gehörende Nexperia von einem Konsortium übernommen – Sicherheitsbedenken hervorrief und sich zunehmend negativ auf das Image des Unternehmens auswirkte. Ein Beispiel: Im Jahr 2023 strich der damalige deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck die geplante Förderung der Nexperia-Fabrik in Hamburg – wegen der Verbindung zu China.
Infolgedessen verließ eine von Wings Schwestern die Chefetage von Nexperia. Doch die von Wing vereinbarten und versprochenen Veränderungen in der Unternehmensführung, etwa die Einführung eines Sonderaufsichtsrats oder einer wirksamen Cybersicherheitsstrategie, blieben aus. Im Juni teilte die niederländische Regierung Nexperia mit, dass ihr US-Sanktionen drohen würden. Die USA hatten mitgeteilt, dass Wings‘ Verbleib an der Spitze von Nexperia „problematisch“ sei. Nexperia signalisierte in Den Haag, dass der CEO ausgetauscht werden müsse, um US-Sanktionen noch vermeiden zu können.
Die Dinge spitzten sich zu. Wing sah offenbar, wie seine Haut davonschwebte, und ergriff selbst drastische Maßnahmen. Im September entzog er dem Finanzvorstand (CFO) und zwei weiteren wichtigen Managern die Finanzvollmacht; Drei Manager, die dagegen protestierten, entließ er umgehend. Ende September soll er kurz davor stehen, weitere umfassende Pläne umzusetzen: die Waferproduktion, die derzeit in Hamburg und Manchester hergestellt wird, nach China zu verlagern, 40 Prozent der europäischen Belegschaft zu entlassen und einen Forschungsstandort in München mit 300 Mitarbeitern zu schließen. Auch das Know-how zur Herstellung bestimmter Halbleitertransistoren soll nach China gehen. NEIN Raketenwissenschaftaber es wäre immer noch eine unbefugte Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen. Wegen eines ähnlichen Vergehens erhielt Wing zu Beginn seiner Karriere in China 17 Monate Gefängnis.
Das Wirtschaftsministerium, dem das Unternehmen schon lange am Herzen liegt, erfuhr von den Plänen durch Whistleblower bei Nexperia. Die Regierung habe, wie eine Quelle sagt, „erkannt, dass der CEO nicht nur die Vereinbarungen nicht eingehalten hatte, sondern sich in eine völlig andere Richtung bewegte.“ Am 25. September erließ der amtierende Wirtschaftsminister Vincent Karremans den Befehl zum Eingreifen, fünf Tage später wurde Nexperia informiert. Der 38-jährige Rechtsliberale ist erst seit Juni im Amt, das er nach dem Sturz der Regierung von Dick Schoof übernahm. Seine Mitarbeiter hatten ein Gesetz aus dem Jahr 1952 entdeckt, das es der Regierung erlaubt, Unternehmensentscheidungen in bestimmten Fällen zu korrigieren. Es wurde zum ersten Mal verwendet. Eine absolute Ausnahme, wie der Minister erklärte, auf die nur dann zurückgegriffen werde, „wenn nichts anderes hilft“.
Am 27. September teilte die US-Regierung Den Haag mit, dass auch Nexperia erwartungsgemäß von den US-Sanktionen betroffen sein werde, allerdings erst nach 60 Tagen. Die Gleichzeitigkeit stärkt das Narrativ vom Nachgeben der Niederländer gegenüber Washington, doch laut Karremans handelt es sich um „reinen Zufall“. „Ungeachtet der laufenden Gespräche mit den USA“, heißt es in niederländischen Regierungskreisen, sei der Nexperia-CEO „kurz davor gestanden, Pläne umzusetzen, die zu einem erheblichen und akuten Verlust an geistigem Eigentum, Know-how und Zugang zu einem wichtigen strategischen Sektor für Europa geführt hätten.“ Dies „erfordere entschlossenes Handeln“.
Und noch ein Zufall: Ungeachtet der Maßnahmen der Regierung wandten sich Nexperia-Leute, bestürzt über Wings Verhalten, am 1. Oktober an ein Unternehmensgericht in Amsterdam. Sie legten Beweise vor, die dazu führten, dass das Gericht noch am selben Tag – vor der für den 7. Oktober geplanten Anhörung – die Ablösung des CEO anordnete, weil dieser gegen die Interessen des Unternehmens gehandelt hatte. In der – vorläufigen – Entscheidung steckt noch ein weiterer schwerer Vorwurf: Der Chinese habe Nexperia massiv betrogen. Offenbar hat er das Unternehmen angewiesen, Wafer im Wert von 200 Millionen US-Dollar beim Shanghaier Chipunternehmen WingSkySemi (WSS) zu bestellen, dessen Eigentümer er ist. WSS hatte finanzielle Schwierigkeiten. Allerdings konnte Nexperia nur Waren im Wert von 80 bis 90 Millionen nutzen. Der Rest sollte liegen bleiben und später in den Müll geworfen werden.
Im Interesse des Unternehmens wurde vereinbart, die Entscheidung von Karremans und den Gerichtsbeschluss ausnahmsweise geheim zu halten. Peking reagierte am 4. Oktober und Wing machte den gesamten Vorfall am 12. Oktober in chinesischen Medien öffentlich.
Am Donnerstag berichteten deutsche Unternehmen, dass China einzelne Exportlizenzen für Nexperia-Lieferungen erteilt habe. Gleichzeitig drohen nun die befürchteten Produktionsstopps. Der Zulieferer Bosch hat für seine Werke in Ansbach und Salzgitter Kurzarbeit beantragt. ZF kündigte außerdem den Schritt an, ein Werk in Schweinfurt zu errichten.
