Die Berichte über Gewalt und Missbrauch in österreichischen SOS-Kinderdörfern sorgten zuletzt für Entsetzen. Die Organisation versucht aufzuklären – doch nun kommen neue Vorwürfe ans Licht.
Gewalt, Demütigung, Missbrauch: Das sind schockierende Vorwürfe, die SOS-Kinderdorf Österreich derzeit erschüttern. Die Zahl der Menschen, die früher in Kinder- und Jugendheimen lebten und nun zu diesen Vorwürfen Stellung beziehen, nimmt zu.
Eine von ihnen ist die 43-jährige Marina Hubmann aus Tirol. „Wir wurden nachts aus dem Bett gezerrt, kalt geduscht und unsere Köpfe in Wasser getaucht, bis wir ohnmächtig wurden“, sagt sie. „Wir wurden gebissen, geschlagen, getreten. Wir waren also absolut hilflos.“
Opfer suchten Schutz und fanden Gewalt
Anfang der 1990er Jahre lebte sie vier Jahre lang in einem SOS-Kinderdorf in der Steiermark. Ihre Mutter brachte sie und ihre Geschwister in der Hoffnung auf Unterstützung dorthin. „Nach Aussage meiner leiblichen Mutter lag es daran, dass wir überfordert waren und freiwillig dorthin gebracht wurden“, sagt Hubmann. Die Umgebung sei wunderschön gewesen, sagt sie – aber der erste Eindruck habe sich am ersten Tag „völlig verändert“.
Die Geschichte von Marina Hubmann ist kein Einzelfall. Seit Ende September haben sich in Österreich über 70 Betroffene gemeldet. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie suchten Schutz – und fanden Gewalt. Viele berichten von körperlichen, psychischen und sexuellen Übergriffen.
Auch Gründer beteiligt
Besonders brisant: Gründer Hermann Gmeiner soll zwischen den 1950er und 1980er Jahren auch mindestens acht Jungen sexuell missbraucht haben. Diese Vorwürfe sind ein schwerer Schlag für eine Organisation, die sich seit langem für den Schutz von Kindern einsetzt.
SOS-Kinderdorf nimmt die Vorwürfe ernst. Grundsätzlich gibt es eine Opferschutzkommission, die in der Vergangenheit Betroffene finanziell entschädigt hat. Allerdings scheint sich erst in den vergangenen Wochen herausgebildet zu haben, dass es sich offenbar um systematische Misshandlungen handelte.
Kinderdörfer bemühen sich um Sensibilisierung
Und der Skandal weitet sich aus – auch international. Aus internen Dokumenten geht hervor, dass Gründervater Hermann Gmeiners Nachfolger Helmut Kutin jahrelang Jungen aus Nepal an einen Großspender geliefert haben soll. Kutin soll von den pädophilen Neigungen des Mannes gewusst haben.
Recherchen zufolge soll auch der vor einigen Wochen suspendierte Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Christian Moser davon gewusst haben.
Die Vorfälle wurden von Journalisten der österreichischen Wochenzeitung Falter aufgedeckt. Das SOS-Kinderdorf hat eine unabhängige Untersuchung angekündigt. Alle Fälle müssten umfassend aufgeklärt werden, sagt Geschäftsführerin Annemarie Schlack: „Die Kultur des Schweigens, die die Vergangenheit bis in die jüngste Vergangenheit durchdrungen hat, ist nun vorbei.“
Für die Betroffenen kommt die Aufarbeitung zu spät
Die SOS-Kinderdörfer in Österreich haben einen Aufruf gestartet, in dem sie weitere Betroffene bitten, sich zu melden. Für Menschen wie Marina Hubmann kommt diese Aufarbeitung jedoch zu spät – ihr Vertrauen in die Institution ist nachhaltig erschüttert.
„Vieles hätte verhindert werden können. Die Einrichtung existiert seit 75 Jahren und bis vor Kurzem hätten solche Misshandlungen vorherrschen und es zu so schweren Misshandlungen von Kindern kommen können“, sagt sie. „Das ist für mich unverständlich.“