
Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, der niederländische Admiral Rob Bauer, unterstützt den Einsatz von Waffensystemen mit größerer Reichweite durch die Ukraine, um Ziele in Russland anzugreifen. Doch in der NATO gibt es diesbezüglich keine einheitliche Meinung.
Laut Admiral Rob Bauer, dem Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, hat die Ukraine das Recht, Ziele tief im Inneren Russlands anzugreifen, um sich einen Kampfvorteil zu verschaffen.
„Jede Nation, die angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen. Und dieses Recht endet nicht an den Grenzen des eigenen Landes“, sagte Admiral Bauer auf einer Pressekonferenz zum Abschluss der Jahrestagung des Komitees in Prag.
Der Niederländer fügte hinzu, dass die Nationen das souveräne Recht hätten, Waffenlieferungen an die Ukraine zu beschränken. An der Pressekonferenz nahm auch Generalleutnant Karel Řehka, Chef des Generalstabs der tschechischen Streitkräfte, teil. Generalleutnant Řehka betonte, dass sein Land Kiew keine derartigen Beschränkungen auferlege.
„Wir glauben, dass die Ukrainer selbst entscheiden sollten, wie sie diese Waffen einsetzen“, sagte Řehka. Er wies aber auch auf die politischen Risiken und das Eskalationspotenzial hin: „Es ist wichtig, alle Aspekte zu bedenken, auch das Eskalationspotenzial und andere Dinge.“
Derzeit erwägt US-Präsident Joe Biden, der Ukraine zu erlauben, mit amerikanischen Waffen mit größerer Reichweite tief im Inneren Russlands zuzuschlagen. Es gibt Anzeichen für Uneinigkeit in dieser Frage.
Noch keine sichtbare Änderung der Politik
Obwohl die Ukraine den Westen weiterhin dazu aufruft, ihr ein tieferes Vordringen in Russland zu gestatten, scheinen die westlichen Staats- und Regierungschefs noch immer zu zögern.
Biden traf sich am Freitag mit dem britischen Premierminister Sir Keir Starmer, nachdem hochrangige Diplomaten diese Woche nach Kiew gereist waren, wo der Druck auf Kiew erneut stieg, die Rüstungsbeschränkungen zu lockern. Man ging davon aus, dass Gespräche über die Genehmigung von Langstreckenschlägen auf dem Tisch lägen, eine Entscheidung wurde jedoch nicht unmittelbar bekannt gegeben.
Die Vereinigten Staaten gestatten der Ukraine, bei grenzüberschreitenden Angriffen Waffen amerikanischer Produktion einzusetzen, um russische Streitkräfte vor Angriffen zu schützen. Sie erlauben jedoch nicht den Einsatz von Waffen mit größerer Reichweite gegen Ziele tief im Inneren Russlands.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die USA und andere Verbündete aufgefordert, seinen Streitkräften den Einsatz westlicher Waffen für Angriffe auf weiter entfernte Luftwaffenstützpunkte und Raketenabschussbasen zu gestatten, da Russland vor dem Winter seine Angriffe auf das ukrainische Stromnetz und die Versorgungseinrichtungen verstärkt.
Er äußerte sich nicht direkt zu dem Treffen am Samstagmorgen, sagte aber, dass über Nacht in der Ukraine mehr als 70 russische Drohnen abgeschossen worden seien. Die ukrainische Luftwaffe erklärte später, man habe 76 russische Drohnen gesichtet, von denen 72 abgeschossen worden seien.
„Wir müssen unsere Luftabwehr und unsere Fähigkeiten über größere Entfernungen stärken, um unsere Bevölkerung zu schützen“, postete Selenskyj in den sozialen Medien. „Daran arbeiten wir mit allen Partnern der Ukraine.“
Die NATO verweist auf militärische und politische Erwägungen
Die Bereitstellung zusätzlicher Unterstützung und Ausbildung für die Ukraine war ein zentrales Thema bei der Tagung der NATO-Stabschefs. Ob dabei auch die US-Beschränkungen besprochen wurden, war am Samstag allerdings unklar.
Viele europäische Staaten haben die Ukraine stark unterstützt, auch weil sie befürchten, das nächste Opfer eines erstarkten Russlands zu werden.
Zu Beginn des Treffens forderte Tschechiens Präsident Petr Pavel die im Saal versammelten Generalstabschefs auf, ihre Einschätzungen und Empfehlungen „mutig und offen zu formulieren“. Je runder und weicher diese ausfielen, desto weniger würden sie auf politischer Ebene verstanden.
Der Militärausschuss der NATO, in dem die Generalstabschefs der Mitgliedsstaaten zusammenkommen, entwickelt regelmäßig Pläne und Empfehlungen, die dann zur Diskussion an die NATO-Verteidigungsminister und anschließend an die Staats- und Regierungschefs der einzelnen Länder der Allianz weitergeleitet werden.
„Man will den Feind schwächen, der einen angreift, man will nicht nur die Pfeile bekämpfen, die auf einen zukommen, sondern auch die Bogenschützen, die, wie wir sehen, sehr oft von Russland aus in der Ukraine operieren“, sagte Admiral Bauer. „Militärisch gibt es also einen guten Grund, das zu tun, den Feind zu schwächen, seine logistischen Linien, seinen Treibstoff, seine Munition, die an die Front kommt, zu schwächen. Das will man, wenn möglich, verhindern.“
Allerdings müssten auch die Risiken einer Eskalation berücksichtigt werden, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, denn nicht ein Waffensystem entscheide über den Kriegserfolg.
„Es gibt eine Reihe von Faktoren, die in die Gesamtgleichung einfließen, ob man die eine oder andere Fähigkeit einsetzen will oder nicht“, sagte Austin am Freitag. „Bei solchen Dingen gibt es keine Einheitslösung.“
Er wies auch darauf hin, dass die Ukraine mit ihren eigenen Systemen, darunter auch Drohnen, bereits in der Lage gewesen sei, Angriffe innerhalb Russlands durchzuführen.
Warnungen aus Russland
Vertreter Moskaus haben in öffentlichen Stellungnahmen wiederholt gewarnt, dass Angriffe auf weiter entfernte Ziele eine weitere Eskalation zwischen Russland und dem Westen provozieren würden. Diese Aussagen stehen im Einklang mit der Darstellung, die der Kreml seit Beginn des Krieges verbreitet. Er wirft den NATO-Ländern eine faktische Beteiligung am Konflikt vor und droht mit Gegenmaßnahmen.
Der russische Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sagte der staatlichen Nachrichtenagentur Tass am Samstag, die US-amerikanische und die britische Regierung würden den Konflikt in eine „schlecht kontrollierte Eskalation“ treiben.
Biden wies am Freitag ähnliche Kommentare des russischen Präsidenten Wladimir Putin zurück. Dieser hatte am Donnerstag erklärt, die Zulassung von Langstreckenangriffen „würde bedeuten, dass sich die NATO-Staaten – die Vereinigten Staaten und europäische Länder – mit Russland im Krieg befinden“.
Auf die Frage, was er von Putins Drohung halte, antwortete Biden: „Ich halte nicht viel von Wladimir Putin.“