In einem seiner Spättexte für die taz, erschienen zu Weihnachten 2021, hat Micha Brumlik eine Bibelexegese mit aufklärerischem Impuls betrieben. Es ist bekannt, dass es in der Jesusgeschichte um Flucht und Vertreibung geht. Aber, wie Brumlik betont, übernimmt es die etwa 3.000 Jahre alten alttestamentlichen Erzählungen von Abraham und Moses, die „vom Missbrauch und der Ausbeutung von Flüchtlingen erzählen“.
Es ist kein Zufall, dass in diesem kurzen Text Hannah Arendt und der Soziologe Georg Simmel, beide jüdischer Abstammung, als Kronzeugen auftreten. Für Brumlik, selbst ein jüdischer Deutscher, war das Gefühl der Fremdheit existenziell. Daraus leitete er die Überzeugung ab, dass das Judentum der Aufklärung und dem Universalismus verpflichtet sei. „Unser heutiges Europa sollte ein Kontinent des Ankommens und der Gastfreundschaft für Fremde werden“, schloss er seinen eher besinnlichen Weihnachtstext.
Brumlik, 1947 als Sohn jüdischer Deutscher, die von Hitler vertrieben wurden, in der Schweiz geboren, war 1968 ein undogmatischer Linker in Frankfurt. Anders als Joschka Fischer blieb er jedoch immun gegen die Versuchungen der Militanz. Er war universell gebildet und beherrschte Religionswissenschaft sowie Kritische Theorie und Marxismus. Er gehörte der Post-68-Szene an, unterstützte das Sozialistische Amt und saß für die Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Ein linker Bürger – aber mit einem weiteren Horizont als die zunächst linksradikale, später grüne Szene.
Ein Fixpunkt war das sich verändernde Verhältnis zu Israel. 1967, im Alter von 19 Jahren, ging er nach Israel, kehrte aber nach dem Sechstagekrieg und der Besetzung des Westjordanlandes als Antizionist zurück. Texte für das Stadtmagazin Frankfurt Sponti Gepflasterter Strand Er lieferte auch einmal den Slogan „Solidarität mit der PLO“. In den 1980er Jahren änderte er seine Haltung, auch aufgrund antisemitischer Untertöne im Antizionismus des deutschen Linksradikalismus.
Micha Brumlik war Erziehungswissenschaftler, Journalist und seit 1987 pointierter taz-Autor. Anlässlich seines Todes präsentieren wir auf taz.de/MichaBrumlik folgende Auswahl seiner Texte:
Kolumne Gott und die Welt: Frühling, Zeit für Adorno (2017) Eine Kolumne, die Brumliks regelmäßig für die taz-Kultur-Seiten schreibt, hier über Adorno und den Frühling.
Kolumne Gott und die Welt: Was nach dem Scheitern (2015) Eine weitere Kolumne von Brumlik darüber, wie jüdisch 1968 und der Pariser Mai waren. Das ist auch sein eigener Einfluss und seine eigene Geschichte.
Asylrechtsdebatte und der Anschlag in Mölln: Schreibtischtäter (1992) Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte geführt haben und führen, seien für die drei Todesfälle in Mölln mitverantwortlich, ebenso wie Bild für den Tod von Rudi Dutschke verantwortlich sei, schrieb Brumlik in diesem wütenden Kommentar nach dem rassistischen Brandanschlag mit sechs Toten.
Asylrechtsdebatte 1992: Verlassen wir mit Anstand die Bühne der deutschen Nachkriegsgeschichte (1992) Ein wütender Gastkommentar in der Asylrechtsdebatte 1992, in dem er die zerstrittenen westdeutschen Intellektuellen zum gemeinsamen Protest aufruft.
Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“: Krankfurter Ballade in Manhattan (1987) Gleich in seinem ersten Text für die taz schrieb Brumlik über das gerade in New York uraufgeführte Stück des Regisseurs Fassbinder.
Er selbst erlebte bei einer Demonstration im Frankfurter Stadtkrieg in den 1970er Jahren einen unterschwelligen Antisemitismus, der sich auch gegen jüdische Kaufleute richtete. Damals legte ihm ein späterer Linken-Genosse (und inzwischen Ex) tröstend den Arm um den Hals und sagte: „Oh, Micha, du bist ganz anders als alle anderen Juden.“
Den Wandel der Grünen kommentierte er spöttisch
Als der Irak 1991 Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, weigerte sich die damalige pazifistische Führung der Grünen, Israel Anti-Scud-Raketen zu liefern. Brumlik trat aus Protest gegen das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Partei zurück.
Anders als einige seiner Weggefährten blieb er in Fragen der Gerechtigkeit stets ein Linker. Mit Spott kommentierte er den Wandel der Grünen von einer rebellischen linken Organisation zu einer braven liberalen Landespartei. Allerdings ohne die bittere Bitterkeit, mit der einige Enttäuschte den Weg der Grünen in die Mitte betrachteten.
Brumlik, von Beruf Professor für Pädagogik, kam dem nahe, was Antonio Gramsci einen organischen Intellektuellen genannt hatte – allerdings ohne die marxistische Teleologie des Fortschritts. Sein Wirkungskreis reichte weit über die Universität hinaus. In Frankfurt setzte er sich dafür ein, die jüdische Tradition zu bewahren und Reste des Ghettos Börneplatz nicht unter Neubauten verschwinden zu lassen. Im Jahr 2000 wurde er Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, das sich zu einer Denkfabrik für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit entwickelte.
Vor allem verstand es Brumlik wie kaum ein anderer, alltägliche politische Interventionen mit scharfsinnigen theoretischen Überlegungen zu verbinden. Er prüfte sie stets anhand der Prinzipien der Aufklärung und der jüdischen Denktradition.
Er kritisierte Netanjahus Israel schon früh
Für ihn war Universalismus nicht verhandelbar. Er erkannte früh die problematische Entwicklung Israels unter Netanjahu, der Israel 2014 zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklärte. Brumlik erkannte darin die Umwandlung des zionistischen Staates in eine Ethnokratie, in der ethnische Diskriminierung letztlich das demokratische Grundprinzip der Gleichheit zerstört.
Eine Kundgebung in Frankfurt gegen die Bebauung des alten jüdischen Ghettos in Frankfurt im August 1987. Am Mikrofon: Micha Brumlik
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Die drängende Frage ist, ob Israel, definiert als jüdischer Staat, eine Demokratie bleiben kann. Brumlik prognostizierte, dass dieser Prozess die jüdische Diaspora von Israel entfremden würde.
Brumlik warnte auch vor einer Einengung des Meinungskorridors in Deutschland in Bezug auf Israel. In der Anti-BDS-Resolution des Bundestags von 2019 erkannte er einen aufkeimenden „McCarthyismus“ – eine deutsche Variante der berüchtigten, antiliberalen Kommunistenjagd in den USA der 1950er Jahre – der es verstand, präzise, tiefgehende Analysen mit ad hoc plausiblen Schlagworten plausibel zu machen.
2021 war er Mitautor der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, die anders als die aktuelle Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Association) den Begriff Antisemitismus vor einer Instrumentalisierung durch die israelische Regierung schützen sollte.
Journalistisches Gespür für das, was gleich passieren wird
Das Wort „Vordenker“ ist wahrscheinlich zu Recht in Vergessenheit geraten. Allzu oft ziert es trendige Intellektuelle, die vor allem die Tastatur der Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen. Gut verstanden beschreibt das Wort die Fähigkeit, etwas zu verstehen und zu begreifen, was andere nur vage vermuten. Brumlik kombinierte das Gespür eines Journalisten für das, was passieren würde, mit einem enzyklopädischen Wissen über intellektuelle Traditionen von der Thora bis Adorno.
Er teilte kritische Solidarität mit Israel. Er war ein deutscher Linker, jüdischer Deutscher und Frankfurter Bürger. Aber seine wahre Heimat war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte.
Micha Brumlik ist am Dienstag im Alter von 78 Jahren nach langer Krankheit gestorben.
