Interview
Der tschechische Präsident Pavel überraschte die Anhänger der Ukraine mit seiner Munitionsinitiative. Im ARD-Interview Er erklärt, wann welche auf dem Weltmarkt gekaufte Munition eintreffen soll – und zieht Parallelen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.
ARD: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt davor, dass die militärische Lage in der Ukraine immer schwieriger werde. Wie lange kann die Ukraine diesem Krieg standhalten?
Peter Pavel: Die Ukraine beweist große Widerstandsfähigkeit, da sie seit Beginn des Konflikts mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten konfrontiert war. Russland ist zweifellos deutlich stärker als die Ukraine.
Der Westen unterstützt das Land technisch und finanziell, aber wir kommen an einen Punkt, an dem die personellen Ressourcen und die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung zunehmend die limitierenden Faktoren sein werden.
In dieser Situation – und dafür plädiere ich schon seit langem – ist es unerlässlich, die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen, damit sie dem russischen Aggressor klar machen kann, dass es keinen Sinn hat, den Krieg fortzusetzen; dass Russland keine weiteren militärischen Erfolge erzielen wird. Denn solange Russland noch Hoffnung auf Erfolg hat, gibt es für Russland keinen Grund, Friedensgespräche zu führen.
„Fünf- bis sechsstellige Zahl an Granaten“
ARD: Die tschechische Munitionsinitiative hat in Europa für großes Aufsehen gesorgt. In Deutschland war von „tschechischen Granaten“ oder gar „Pavel-Granaten“ die Rede. Wann werden die ersten dieser Granaten in der Ukraine eintreffen? Und warum dauert es so lange?
Paul: Je mehr Parteien von der Initiative wissen, desto mehr Konkurrenz entsteht. Einerseits war es notwendig, die Initiative öffentlich zu machen, um die Unterstützung anderer Länder zu bekommen, andererseits haben wir aber auch unsere Karten offengelegt, was Russland jetzt natürlich ausnutzt. Auch deshalb kommt die Initiative nicht so schnell voran, wie wir es uns gewünscht hätten.
Gemeinsam mit unserem Ministerpräsidenten Petr Fiala gehe ich davon aus, dass die ersten 180.000 Munitionsstücke im Juni ausgeliefert werden und es bereits Verträge für eine weitere fünf- bis sechsstellige Anzahl an Granaten gibt.
ARD: Diese Einkäufe müssen bezahlt werden. Und es scheint, dass die Finanzierung noch nicht vollständig geklärt ist. Hat ein Teil des Westens bereits die Hoffnung auf einen Sieg der Ukraine verloren?
Paul: Ich würde nicht sagen, dass er die Hoffnung verloren hat, aber während des gesamten Krieges in der Ukraine war der Westen mit seiner Unterstützung sehr zurückhaltend. Von Anfang an wurde versucht, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.
Über jede neue Etappe gab es lange Debatten, bevor sie schließlich fertiggestellt wurde. Hätten wir diese Phase des Nachdenkens und der Risikobewertung übersprungen, hätte die Ukraine diese Hilfe Monate, vielleicht sogar Jahre früher erhalten, und die Situation hätte anders aussehen können.
Wir sollten aus der Vergangenheit lernen und jetzt in vollem Umfang und so schnell wie möglich Hilfe leisten, um zu verhindern, dass die Ukraine noch mehr Territorium und Leben verliert.
„Wie falsch alle lagen!“
ARD: Am 8. Mai feiert Tschechien den Jahrestag des Kriegsendes und des Sieges über den Nationalsozialismus. Inwieweit hat der russische Angriffskrieg diesen Tag verändert?
Paul: Wir sollten uns daran erinnern, wie Kriege entstehen, denn es gibt viele Parallelen zwischen den Ursprüngen des Zweiten Weltkriegs und dem Konflikt in der Ukraine. Betrachtet man das Beispiel der damaligen Tschechoslowakei, so diente die deutsche Minderheit in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei als Vorwand für den Einmarsch Hitlers. Im Falle Russlands und der Ukraine war es die russischsprachige Minderheit im östlichen Donbass.
Und wie zuletzt mit Russland wollten wir nicht zugeben, dass Hitler tatsächlich einen Krieg dieser Größenordnung beginnen könnte. Damals glaubten die westlichen Verbündeten der Tschechoslowakei, sie könnten durch Zugeständnisse an Hitler den Frieden retten. Und wie sehr lagen alle falsch!
Noch heute neigen viele Menschen dazu zu sagen: „Geben wir Putin nach, geben wir ihm ein Stück Ukraine, dann ist der Krieg zu Ende und es wird Frieden sein.“ Vielleicht sollten wir einen Blick auf die Geschichte werfen und daraus für heute lernen.
ARD: Viele der jüngeren mittelosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, wie etwa die Tschechische Republik, nehmen eine deutlich entschiedenere Haltung gegenüber der russischen Aggression ein als Länder, deren EU-Mitgliedschaft schon länger besteht. Ist dies ein Moment der europäischen Emanzipation für die östlichen EU-Staaten?
Paul: Bis zu einem gewissen Grad ja, denn die mittel- und osteuropäischen Länder haben direkte Erfahrungen mit der Sowjetunion und Russland. Und sie sind nicht besonders positiv. Die meisten westlichen Länder haben dagegen nur indirekte Erfahrungen – sie neigen dazu, Russland als einen normalen europäischen Staat zu betrachten.
Russland bezeichnet sich selbst als eine euro-asiatische Zivilisation. Russische Werte unterscheiden sich völlig von unseren. Daher wäre es sehr naiv, sich Russland aus einer Position des Zugeständnisses zu nähern, aus der Position des Versuchs, eine für beide Seiten vorteilhafte Lösung zu finden. Bis heute kennt Russland nur „gewonnen“ und „verloren“.
Mit anderen Worten: Wenn Russland Erfolg haben will, müssen die anderen verlieren. Und das sollte uns eine Warnung sein.
Das Interview führte Danko Handrick, Korrespondent im ARD-Studio in Prag