Nachrichtenportal Deutschland

Mit dem Stellenabbau und der Forderung nach mehr Leistung bricht Nestlé-Chef Navratil ein Tabu

Ein Abbau von 16.000 Stellen: Bei Nestlé kommt das einem Tabubruch gleich. Was will der neue Firmenchef Philipp Navratil?


Philipp Navratil, seit Anfang September CEO von Nestlé, schlägt einen neuen Ton an.

William Gammuto / Nestlé

Der Abbau vieler Stellen gehört nicht zum Stil von Nestlé. „Es wäre der schlimmste Tag meines Lebens, wenn ich die Entlassung von 10.000 Mitarbeitern ankündigen müsste“, sagte der frühere Präsident Peter Brabeck-Letmathe einmal in einem Interview. Brabeck beeinflusste Nestlé jahrzehntelang und war davon überzeugt, dass es bei einem gut geführten Unternehmen keiner reflexartigen Übungen bedarf. Dies hielt er auch 2005 in einem Leitfaden zur Nestlé-Kultur fest: „Nestlé vermeidet drastische Sofortmaßnahmen und abrupte Veränderungen, wo immer es möglich ist.“

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt für wichtige Funktionen JavaScript. Ihr Browser oder Werbeblocker verhindert dies derzeit.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Gegen den Zoll

Und nun das: Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt diese Woche kündigte der neue Nestlé-Chef Philipp Navratil an, weltweit 16.000 Stellen abzubauen. Mitarbeiter, die jahrzehntelang im Unternehmen tätig waren, können sich nicht erinnern, dass jemals etwas Derartiges im Unternehmen passiert ist. Offenbar wurde Nestlé in den letzten Jahren nicht sorgfältig genug geführt.

Also schlägt Navratil einen neuen Ton an. Sein wegen einer versteckten Liebesaffäre entlassener Vorgänger Laurent Freixe hatte bereits vor einem Jahr ein Sparprogramm auf den Weg gebracht. Dazu gehörte in begrenztem Umfang auch der Stellenabbau, den Navratil nun stark ausweitet. Während Freixe keine Zahlen nannte, verkündete Navratil offensiv die hohe Zahl.

Den Unterschied zu bisherigen Praktiken macht er selbst in einem YouTube-Einführungsvideo für die Mitarbeiter deutlich. Er plaudert zunächst über sich selbst, seine Familie mit Hund, seinen Führungsstil und Nestlé – bis er nach zehn Minuten über den Stellenabbau spricht. „Früher haben wir uns davor gescheut, diese Themen transparent anzugehen“, sagt er und fügt hinzu: „Die Welt verändert sich, und wir müssen uns auch verändern.“

Verankert in der Nestlé-Kultur

Navratil kann solche harten internen Einschnitte nur deshalb glaubhaft vertreten, weil er selbst ein typischer Nestlé-Mann ist. Der Schweizer hat seine gesamte 24-jährige Karriere beim weltgrößten Lebensmittelkonzern verbracht. Von Vevey aus ging er nach Panama, Honduras und Mexiko und bewährte sich in verschiedenen Funktionen, bevor er als Leiter des Kaffeegeschäfts in die Schweiz zurückkehrte.

Diese Internationalität und Rotation zwischen den Ländern sind typisch für die Nestlé-Kultur. Weitergegeben werden auch die Werte der Gruppe, die das Unternehmen sich selbst und seinen Schweizer Wurzeln zuschreibt: Respekt vor anderen Kulturen und Lebensweisen, Zuverlässigkeit, Seriosität, Qualitätsbewusstsein, Langfristigkeit.

Doch der „Nestlé Lifer“ Navratil will dem Unternehmen nun einen Wandel verordnen. Der 49-Jährige sagte diese Woche selbstbewusst, dass er vom Vorstand zum CEO gewählt wurde, weil er eine offene Perspektive habe. Er wollte ohne Scheuklappen und ohne Rücksicht auf alte Sitten vorgehen.

Mehr Leistungslohn

Das sichtbarste Zeichen des Wandels ist, dass Navratil eine neue Leistungskultur fordert. Er will eine Kultur schaffen, die das Siegen belohnt: „Wir werden unsere Leute schonungslos nach ihrer Leistung beurteilen.“ Ein Verlust von Marktanteilen? Darf nicht länger toleriert werden.

Im Umkehrschluss bedeutet dies aus Sicht der neuen Führung, dass einige Nestlé-Mitarbeiter es bislang offenbar zu locker angehen ließen. Navratil will nun die Leistung einzelner Mitarbeiter klarer ermitteln. Künftig sollen die Personalziele deutlich strenger, messbarer und innerhalb der Gruppe vergleichbar sein. Darüber hinaus sollte die Bezahlung stärker an die Leistung gekoppelt werden. Navratil nimmt auch seine Managementkollegen in die Pflicht: Wir werden sehen, wer liefert und wer nicht.

Gefahr der Verdrängung traditioneller Werte

Navratil versucht damit einen Balanceakt. Einerseits darf er die traditionellen Stärken der Nestlé-Kultur, für die er selbst steht und die das Unternehmen seit Jahrzehnten äußerst erfolgreich machen, nicht beschädigen. Andererseits möchte er Veränderungen erreichen.

Experten für Personalmanagement halten den Spagat für möglich, wenn Nestlé seine Belegschaft mit Respekt und Transparenz abbaut – wie Navratil angekündigt hat. Es gilt, den Personalbestand ohne Verluste zu reduzieren: Natürliche Fluktuationen sollten ausgenutzt werden, und wenn Entlassungen notwendig sind, sollten diese fair und mit großzügigen Konditionen erfolgen. Eine weitere Herausforderung wird sein, dass Nestlé-Mitarbeiter aufgrund ihrer individuellen Leistungsorientierung traditionelle Nestlé-Werte wie Respekt, Gemeinschaftssinn und Langfristigkeit nicht vergessen.

Navratils Bruch mit der Vergangenheit in der Kommunikation ist kalkuliert. Seine Botschaft richtet sich nicht nur an die Mitarbeiter. Es ist auch ein Signal an die Anleger, dass an der Spitze von Nestlé ein Umdenken stattgefunden hat. Zusammen mit überraschend guten Quartalszahlen führte dies zu einem deutlichen Kursanstieg der Aktie.

Schwankende Personalstärke

Schlagzeilen über Stellenabbau sind für Nestlé nichts Neues. Das Unternehmen hat im Laufe der Jahre immer wieder Fabriken geschlossen oder verkleinert. Darüber hinaus hat Nestlé immer wieder Unternehmen übernommen oder Unternehmensteile verkauft. Die Anzahl der Mitarbeiter schwankt daher. Vor zehn Jahren hatte Nestlé fast 340.000 Mitarbeiter. Derzeit sind es rund 277.000. Der erneute Abbau von 16.000 Stellen entspricht fast 6 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung.

Wenn es bisher zu Arbeitsplatzkürzungen kam, fanden die Proteste meist auf lokaler oder bestenfalls nationaler Ebene statt. Ein Beispiel, das auch über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fand, waren Proteste gegen Restrukturierungsmaßnahmen bei Perrier. In einer Pattsituation drohte Nestlé einmal sogar mit dem Verkauf des französischen Mineralwasserkonzerns. Da Nestlé in diesen Tagen tatsächlich einen Teilverkauf erwägt, demonstrierten die Gewerkschaften vorsorglich am Hauptsitz in Vevey.

Anders sieht es bei Bürojobs aus. Die dortigen Beschäftigten sind in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert und protestieren daher seltener öffentlich.

Es war eine neue Dimension für Nestlé in der Schweiz, als der kürzlich von aussen geholte CEO Mark Schneider 2018 eine Neuorganisation der IT und den Abbau von bis zu 500 Stellen hierzulande ankündigte. Damals verlagerte das Unternehmen Arbeitsplätze in Servicezentren in Spanien und Portugal.

Ein Teil des Stellenabbaus bei Navratil ist darauf zurückzuführen, dass Nestlé bestimmte Dienstleistungen zentralisieren wird, die derzeit dezentral in verschiedenen Ländern erbracht werden. Ob neue sogenannte Shared Service Center notwendig sind, konnte das Unternehmen noch nicht sagen.

Eines ist klar: In den nächsten Wochen werden bei Nestlé große Maschinen in Betrieb gehen. Sie muss einen Stellenabbau umsetzen, den es im Unternehmen noch nie gegeben hat.

Die mobile Version verlassen