Ministaat als Spionagehochburg?
Wie San Marino ein Freund Russlands wurde
Von Kevin Schulte
8. Mai 2024, 18:28 Uhr
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San Marino unterhält seit Jahrzehnten bemerkenswert enge Beziehungen zu Russland. Im Mittelpunkt stehen mehrere Personen, die der Zwergstaat als Botschafter beschäftigt. Ihre Verbindungen zum Kreml werfen Fragen auf.
San Marino ist das fünftkleinste Land der Welt. Der Zwergstaat ist vollständig von Italien umgeben, ist 61 Quadratkilometer groß – und damit genauso groß wie der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. In San Marino leben rund 34.000 Menschen, so viele wie in einer deutschen Kleinstadt. Das Land macht selten oder nie Schlagzeilen. Und wenn ja, dann höchstens, wenn die chronisch erfolglose Fußballnationalmannschaft erneut die Farben San Marinos vertritt – und verliert. Das Team hat in 34 Jahren nur einen Sieg gefeiert.
Doch nun rückt das Mini-Land auch in den politischen Fokus, weil San Marino spürbare Nähe zu Russland hat. Die Wurzeln dieser bizarren Freundschaft reichen lange zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kleinstaat von 1947 bis 1957 eine Art kommunistische Insel in Italien. Zwischen 1978 und 1986 wurde San Marino erneut von einer linken Volksfront regiert. Während des Kalten Krieges war der Staat zeitweise ein enger Verbündeter Moskaus.
Diese Nähe blieb teilweise auch in den folgenden Jahrzehnten bestehen – als San Marino längst zu einer Steueroase und einem beliebten Tagesausflugsziel für Rimini-Urlauber geworden war.
San Marino versteht sich seit Jahrhunderten als neutrales Land, ähnlich wie die Schweiz. Deshalb beteiligte es sich nicht an den Sanktionen gegen Moskau im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland. 2019 lud das kleine Land Außenminister Sergej Lawrow ein und verlieh ihm die wichtigste Medaille San Marinos. Während der Pandemie hat die älteste Republik der Welt den russischen Sputnik-Impfstoff gegen das Coronavirus gekauft. Im selben Jahr einigten sich auch die größten und fünftkleinsten Länder der Welt auf eine Vereinbarung zur Abschaffung der Reisebeschränkungen.
„Ein Ausdruck der ungewöhnlichen Außenpolitik San Marinos“
Eine Schlüsselfigur in den russisch-sanitären Beziehungen ist ein Mann namens Emmanuel Goût, berichtet der britische Economist. Der 65-jährige Franzose ist seit etwas mehr als zwei Jahren Sonderbotschafter der Republik San Marino.
Goût habe mit seiner PR-Firma unter anderem Lobbyarbeit für russische Energiekonzerne betrieben, schreibt der „Economist“. Er half auch beim Aufbau der französischen Niederlassung des russischen Staatsfernsehens RT. Für seine Bemühungen wurde ihm 2020 sogar die russische Staatsbürgerschaft verliehen.
Es ist völlig unklar, warum ein Franzose mit russischer Staatsbürgerschaft zwei Jahre später Sonderbotschafter in San Marino wurde. Offenbar wusste die dortige Regierung nichts von seiner russischen Staatsbürgerschaft. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung habe Goût „keine anderen Nationalitäten angegeben“, sagte San Marinos Außenminister Luca Beccari dem Economist. Auch interne Kontrollen ergaben keinen Aufschluss über den russischen Pass des Franzosen. Außenminister Beccari erklärt so vage wie möglich: Goût verfüge über „langjährige Erfahrung in zahlreichen Bereichen, die für die Republik von Interesse seien.“
Der „Economist“ analysiert, dass Goûts Persönlichkeit „Ausdruck der ungewöhnlichen Außenpolitik San Marinos“ sei. Auch weil Goût nicht der einzige Gesandte San Marinos ist, der Verbindungen nach Moskau hatte oder hat. Igor Pellicciari ist seit 2019 San Marinos Botschafter in Jordanien, von 2014 bis 2017 war er russischer Honorarkonsul in der nur 135 Kilometer entfernten italienischen Stadt Bologna.
Ungewöhnlich ist auch, dass einer der reichsten Russen 20 Jahre lang Honorarkonsul von San Marino in Moskau war. Der Milliardär Wladimir Lissin ist seit 1998 Chef eines russischen Stahlkonzerns. Obwohl der 68-Jährige die Invasion in der Ukraine öffentlich kritisiert hat, wird er immer noch von Australien sanktioniert, weil er „eine Tätigkeit ausübt oder eine Funktion ausübt, die für Russland von wirtschaftlicher oder strategischer Bedeutung ist“. Lissin trat daraufhin aus eigener Initiative von seinem Amt als Honorarkonsul zurück. San Marino hat nicht früher gehandelt, weil Lissin „in den EU-Sanktionen, an denen San Marino beteiligt ist, nicht vorkommt“, wie Außenminister Beccari dem „Economist“ sagte.
„Zufluchtsort für Spionage“
Mittlerweile hat San Marino seine neutrale Position etwas aufgeweicht. Der Kleinstaat beteiligt sich nun auch an den Sanktionen gegen Russland – als Reaktion auf den Großangriff auf die Ukraine.
Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass San Marino immer noch enge Beziehungen zu Russland unterhält. San Marino sei „seit langem ein Zufluchtsort für Spionage“, zitiert der Economist einen ehemaligen italienischen Geheimdienstoffizier. Russische Agenten nutzten San Marino als Ort, „um zu besprechen, was sie in Italien vorhatten“.
Ist San Marino ein russischer Spionage-Hotspot? Der Economist zitiert einen hochrangigen ukrainischen Geheimdienstmitarbeiter mit den Worten, dass die mangelnde Aufmerksamkeit, die Europa der Außenpolitik San Marinos schenkt, „Anlass zur Sorge“ sei.
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