Kein Entlastungsautor: Mauricio Rosencof, 2010
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Ein Mann fährt einen Zug. Er ist auf dem Weg zu seinem Sohn, den er alle paar Monate besucht. Während der Reise entstehen in ihm immer wieder Erinnerungsblasen. Bald scheint es, dass das Einzige, was ihn in der Gegenwart hält, sein Bedürfnis zu pinkeln ist.
Sehr selten denkt der Mann an die unmittelbare Zukunft: Er hat Schuhe bei sich, die er seinem Sohn schenken möchte, er hat auch Obst bei sich, er hofft, dass sein Sohn sie auch bekommt. Der Sohn wird als „Geisel des Staates“ inhaftiert. So wurden die politischen Gefangenen in Uruguay bezeichnet, die nach dem Militärputsch 1973 in Kasernen festgehalten wurden.
Der erwähnte Sohn ist Mauricio Rosencof, ehemaliges führendes Mitglied der MLN-Tupamaros und Autor des Buches. In den 1930er Jahren verließ sein Vater das polnische Schtetl, in dem seine Familie zunächst lebte und von wo aus sie später zur Ermordung in ein Vernichtungslager deportiert wurde.
Das Schweigen des Vaters beginnt mit den Briefen, die aus seiner früheren Heimat eintreffen und die er am Esstisch nicht mehr laut vorlesen möchte, sondern, wenn überhaupt, mit seiner Frau im stillen Flüsterton bespricht. Die Stille, die ihn fortan umgibt, wird so vollkommen sein, dass er kaum noch eine Erinnerung mit seinem Sohn teilen kann; Die physische Zerstörung der Welt, wie er sie kannte, verhindert jede Erzählung darüber. Erst viel später, im Gefängnis, wo der Sohn an einem kahlen Tisch sitzt, wird er wieder über seine eigene Kindheit und Jugend und über die Menschen sprechen können, die seine Vergangenheit bevölkerten und von denen viele nicht mehr da sind. Dafür hat er alle paar Monate zehn Minuten Zeit. Das ist alles.
Dieses Buch ist in einer Weise aufgebaut, die auf dem deutschen Buchmarkt nicht funktioniert: Es ist ein Konglomerat aus Textfetzen, Erinnerungen, Eindrücken, Briefauszügen, teils fiktiv, teils real. „My Father’s Silence“ erzählt keine Geschichte, sondern einen Sachverhalt. Es gibt keine Peripetie, es gibt keine Lösung, es gibt das Leid der Menschen, die ermordet und gedemütigt wurden, und derer, die überlebt haben. Und es zeigt uns, dass es möglich ist, sich an sie zu erinnern, ohne sie zu verurteilen oder – noch schlimmer – sie in eine Geschichte zu verwandeln.
Diese Art der Erinnerung erfordert, dass sich der Leser mit dem Buch beschäftigt; nicht nur auf das Buch, sondern auf die gesamte Erzählweise des Fragmentarischen, Weggeworfenen. Ein Großteil der Kunst des Romans bestand darin, eine zusammenhängende Erzählung darüber zu liefern, warum Charaktere so sind, wie sie sind; Ästhetisch ist der Roman ein sicherndes Konzept. Ein neueres Beispiel für diese Art des Erzählens ist „Geschwister im Hintergrund“ von Sabine Bode, in dem versucht wird, die „Narben der Herkunft“ (Klappentext) eines Geschwisterpaares zu beschreiben, dessen Eltern Täter waren. Der Sinn dieses Buches besteht darin, dass die gereinigten nachfolgenden Generationen sich mit der Vergangenheit versöhnen, weil sie wieder zueinander finden.
Der Sinn von „My Father’s Silence“ besteht darin, dass es keines gibt. Das Buch endet mit Fotos von Menschen, die systematisch ermordet wurden, und erzählt in knappen Worten, wie sie getötet wurden. Es will nicht versöhnen, nur etablieren. Das ist passiert, daran führt kein Weg vorbei. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus interessant, dass sich vor allem Romane in Deutschland gut verkaufen, Kurztexte und Fragmente hingegen selten oder nie ein Publikum gefunden haben: Die Erinnerungsstruktur der deutschen Kulturlandschaft ist eine, die durch Psychologisierung Entlastung sucht.
Die Schuhe, die Mauricio Rosencofs Vater ihm ins Gefängnis bringt, passen perfekt: einer seiner Wärter. Rosencofs Buch sagt uns, dass es keine Moral gibt, sondern nur eine Einstellung.
Mauricio Rosencof: Das Schweigen meines Vaters. Von d. Spanne. v. Svenja Becker. Verein A, 160 S., Hardcover, 18 €.
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