Der Eurovision Song Contest ist nicht nur ein großes europäisches TV-Event. Außerdem sorgt es regelmäßig für Festivalatmosphäre in den Austragungsstädten. Eigentlich. Denn in Malmö herrscht kaum Partystimmung. Dies hängt mit der Teilnahme Israels am ESC zusammen. Aber nicht nur.
Wenn man abends durch die Innenstadt von Malmö schlendert, scheint es, als hätten die Agitatoren bereits gesiegt. Klar, Stortorget, der zentrale Platz der drittgrößten Stadt Schwedens mit rund 300.000 Einwohnern, ist zu Ehren des hier gerade stattfindenden Eurovision Song Contest (ESC) festlich mit ein paar Fahnen geschmückt. Doch ansonsten ist es in Malmös Zentrum knapp eine Stunde vor Beginn des ersten ESC-Halbfinales am Dienstagabend nahezu menschenleer. Wenn ein paar Leute über den Platz flanieren, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um ausländische ESC-Fans, die extra für die Veranstaltung eine weite Anreise angetreten haben.
In den Seitenstraßen rund um den Platz gibt es viele Kneipen und Restaurants. Doch Werbung für ein gemeinsames Public Viewing in einer der Bars fällt nicht auf. Es gibt nirgendwo einen Fernseher, der die Aufwärmshow für das ESC-Halbfinale zeigen könnte, die bereits auf SVT läuft. Selbst die typischen ESC-Klassiker erklingen nicht laut. Nur ein oder zwei Hotels nutzen ihre Außenlautsprecher, um den Rauchern vor dem Eingang dezent Musik von Abba, Loreen und Co. zuzuspielen.
Die Atmosphäre ist anders als in Liverpool, wo der ESC letztes Jahr stattfand, wie Tag und Nacht. Obwohl oder gerade weil die Briten die Veranstaltung nur im Namen der Ukraine organisierten, feierten sie sie so ausgelassen, als gäbe es kein Morgen. Ganz Liverpool schien ein einziges großes Partyviertel zu sein. Dass die Dinge in Malmö ganz anders aussehen, mag an einer gewissen ESC-Trägheit der siegesverwöhnten Schweden liegen. Die Stadt hat auch keine Schulden zu begleichen, wie Liverpool dies möglicherweise gegenüber der Ukraine empfunden hat. Aber der wahre Grund ist wahrscheinlich ein anderer.
Der heiße Ort Malmö
Der ESC, der sich gerne als unpolitische Veranstaltung präsentieren möchte, ist in den Mittelpunkt politischer Agitation geraten. Noch einmal. Denn es gelingt ihm regelmäßig nicht, das Weltgeschehen aus seinem Singsang herauszulassen. Wie soll das funktionieren, wenn der Wettbewerb wie 2012 in einem autoritären Land wie Aserbaidschan stattfindet? Oder 2017 in der Ukraine, die sich de facto bereits im Krieg befand? Oder wenn am Ende kein Weg daran vorbeiführt, Russland ab 2022 auszuschließen?
Der Grund für die politische Aufladung des ESC im Jahr 2024 ist die Teilnahme Israels am Gesangswettbewerb. Genauer gesagt: Israels aktuelles Vorgehen im Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen. Schließlich ist Israel seit 1973 treuer ESC-Gast, mit bislang stolzen 45 Teilnahmen. Ein Umstand, der insbesondere arabischen Staaten seit jeher ein Dorn im Auge ist. Genau deshalb nehmen manche nicht am ESC teil, obwohl dieser für sie offen ist. Ein Land wie Jordanien schaltete in den 1970er Jahren manchmal die Fernsehübertragung ab, wenn der israelische Sänger die Bühne betrat. Doch nun drohen Kritik und Antisemitismus in puren Hass und Gewalt umzuschlagen.
Natürlich betrifft diese Gefahr heutzutage nicht nur den ESC. Aber es ist kein Wunder, dass es den Sicherheitskräften im Rahmen einer Großveranstaltung, die, wie immer gesagt wird, am Ende bis zu 200 Millionen Menschen verfolgen werden, besondere Kopfschmerzen bereitet. Besonders in einer Stadt wie Malmö, die bereits als Hotspot gilt. Hier ist nicht nur der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund besonders hoch, sondern auch die Arbeitslosenquote. Die Bandenkriminalität in der Stadt ist berüchtigt. Schon lange vor den jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten waren hier soziale Spannungen an der Tagesordnung. Manche Menschen verbrennen den Koran öffentlich, andere zünden israelische Flaggen an.
Zweithöchste Terrorwarnstufe
Als ob das alles nicht prekär genug wäre, ist Schweden grundsätzlich einer großen terroristischen Bedrohung ausgesetzt. Erst im vergangenen Jahr hat das Land die entsprechende Warnstufe angehoben – und zwar auf die zweithöchste Kategorie, die eine „hohe Bedrohung“ darstellt. Dementsprechend gibt es im Land Akteure, die nicht nur die Absicht, sondern auch die Fähigkeit haben, Anschläge zu verüben.
Christer Mattsson, Professor für Antisemitismusforschung in Göteborg, wird derzeit in verschiedenen Medien mit einem vielsagenden Satz zitiert: „Malmö ist diese Woche der Mittelpunkt Europas.“ Auch der Nationale Sicherheitsrat Israels ist davon überzeugt, dass sich hier etwas zusammenbrauen könnte. Letzte Woche erließ er eine strengere Reisewarnung für Malmö und empfahl den Bürgern des Landes, einen geplanten Besuch in der ESC-Stadt zu überdenken.
Gerüchten zufolge ist der israelische Geheimdienst Shin Bet derzeit in Malmö präsent, nicht zuletzt zum Schutz der israelischen Delegation um den Sänger Eden Golan, der das Land in diesem Jahr beim Wettbewerb vertritt. Die 20-jährige Dolmetscherin und ihr Team gelten als besonders gefährdet. Wo sie in Malmö übernachten, ist geheim. Offenbar sollte Golan ihr Zuhause nur für die wichtigsten Termine wie Proben und Auftritte verlassen.
Zwei große Demos angekündigt
Allerdings besteht für jeden, der sich derzeit in Malmö aufhält, die abstrakte Gefahr, in Unruhen, Gewaltausbrüche oder gar einen Anschlag verwickelt zu werden. Einige Bewohner flohen sogar vorsorglich aus der Stadt, bis der ESC vorbei war, berichten Medien. Unterdessen versucht die schwedische Polizei mit einem Großaufgebot, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sogar zusätzliche Kräfte aus Dänemark und Norwegen wurden hinzugezogen. Zu den Vorsichtsmaßnahmen gehört auch der Einsatz von Überwachungsdrohnen oder die Ausrüstung von Einsatzkräften mit schweren Waffen.
Bisher lässt sich die starke Polizeipräsenz in der Stadt nur erahnen – in Hotspots wie der Malmö Arena, wo die eigentlichen ESC-Shows stattfinden, und dem „Eurovision Village“, in dem in den abseits gelegenen Folkets Live-Auftritte und Shows stattfinden Von der Innenstadt aus lockt der Park oder die Hotels, in denen die ESC-Künstler übernachten. Doch das soll sich spätestens am Donnerstagnachmittag ändern. Dann wird der Stortorget sicherlich nicht mehr so verlassen sein wie am Abend zwei Tage zuvor.
Unter dem Motto „Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest – Für Frieden und ein freies Palästina“ ist eine von zwei Großdemonstrationen angekündigt – nur wenige Stunden vor Eden Golans Auftritt im zweiten ESC-Halbfinale. Eine zweite Demo am selben Ort ist für Samstag geplant, dem Tag, an dem die Israelin im unwahrscheinlichen Fall ihrer Qualifikation auch die Bühne im Finale des Song Contests betreten wird. Es werden jeweils bis zu 10.000 Teilnehmer erwartet.
Die ersten Skandale sind bereits da
Längst ist der politische Streit auch im WSA angekommen. Also musste Golan ihr Lied, das eigentlich „October Rain“ hieß, umschreiben. Die European Broadcasting Union (EBU), die den ESC organisiert, erkannte im Original eine Anspielung auf das Hamas-Massaker an Israelis im Oktober 2023. Nun heißt das Lied stattdessen „Hurricane“.
Und das erste ESC-Halbfinale ist bereits zu einer politischen Plattform geworden. Es stellte sich heraus, dass Bambie Thug aus Irland während der Proben seine Arme und Beine mit Worten wie „Freiheit“ und „Waffenstillstand“ bemalt hatte. Aber in der Live-Show war etwas anders. „Leider musste ich diese Nachrichten in ‚Crowned the Witch‘ ändern, was eine Anweisung der EBU war“, kommentierte Bambie Thug sarkastisch.
Den ersten Skandal erlebte die Sendung jedoch schon, als sie erst wenige Minuten alt war. Eric Saade, der Schweden beim ESC 2011 mit „Popular“ vertrat und nun im Halbfinale mit seinem Lied für Stimmung sorgen sollte, band sich einen palästinensischen Schal um die Hand. Eric Saade hat einen libanesischen Vater palästinensischer Herkunft – seine Aussage könnte kaum klarer sein.
Die Partystimmung ist verflogen
Angesichts der Besorgnis über Terror und Gewalt in Malmö ist solch ein friedlicher Protest natürlich eine Pille. Dennoch zwingt er die edlen und weltfremden Statuten eines völlig politikfreien ESC in die Knie, dir nichts. Noch schlimmer ist jedoch die Kapitulation, die extremistische Kräfte der Veranstaltung bereits teilweise aufzwingen.
Das Gefahrenniveau beim ESC ist in den letzten Jahren sicherlich nicht zu unterschätzen. Nicht nur wegen seiner breiten Wirkung in ganz Europa, sondern auch, weil sein überschwängliches, farbenfrohes und queeres Erscheinungsbild islamistischen Fanatikern wahrscheinlich genauso wenig gefallen wird wie der radikalen Rechten. Dass in Ländern wie Aserbaidschan oder der Ukraine sogar das Militär zum Schutz der Veranstaltung eingesetzt wurde, schien angesichts der Situation in diesen Ländern einigermaßen verständlich. Allerdings ist die Tatsache, dass in einem Land wie Schweden inzwischen ernsthafte Angst vor dem Terrorismus besteht und die israelische Künstlerin um Leib und Leben fürchtet, geradezu beängstigend.
Der freien Gesellschaft bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Sicherheitsmaßnahmen bestmöglich vor möglichen Gefahren zu schützen. Doch die Partystimmung ist verflogen. Es scheint nicht nur so. Tatsächlich haben die Extremisten teilweise schon gewonnen.