Litauen gilt als Verteidigungspionier in der NATO. Doch plötzlich bebt das Land. Eine rechtsextreme Regierungspartei mischt sich ein – eine Analyse.
Aus buchstäblich sicherer Entfernung scheint Litauen eine Art Bollwerk gegen prorussische Bestrebungen zu sein: Die Menschen im Land spenden riesige Geldsummen an die Ukraine – und ein fulminanter Ausbau der Verteidigung war eine Selbstverständlichkeit. Langfristig sollen es bis zu sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister Tomas Godliauskas unserer Redaktion im März. Doch jetzt gibt es in Vilnius Gerüchte. Das weithin sichtbare Zeichen: der Abgang von Godliauskas‘ Chefin Dovilė Šakalienė.

Litauen bekam erst Ende September ein neues Regierungsbündnis – nachdem Ministerpräsident Gintautas Paluckas das Land wegen Korruptionsvorwürfen verlassen hatte. Doch diese ertrinkt derzeit in Lügenvorwürfen, Vorwürfen, im Interesse Russlands zu handeln – und Streitereien um Geld. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die stark rechte Partei Nemuno aušra (NA) spielen. Sie war und ist Teil der Koalition um die Sozialdemokraten, trotz wachsender Proteste im Land. Und ihre Kritiker halten sie für pro-russisch.
Skandal um Litauens Verteidigungsministerium: Ehemalige Chefin ist „stolz“ auf ihr Volk
Am Mittwochnachmittag war das Schicksal von Šakalienė auf ziemlich bizarre Weise noch unklar: Die Ministerin reichte am Morgen ihren Rücktritt ein, und die neue Premierministerin Inga Ruginienė forderte die Entlassung von Šakalienė. Nur Präsident Gitanas Nausėda wurde langsamer. Zuvor hatte ein ungewöhnlicher Vorfall für Aufsehen gesorgt: Offenbar waren prominente Journalisten bei einem Termin im Ministerium vor heimlich geplanten Kürzungen im Verteidigungshaushalt gewarnt worden. Šakalienė signalisierte, dass sie diese Einladung nicht geplant hatte – verurteilte sie aber auch nicht.
Die amtierende Ministerin sagte am Mittwoch, sie sei „stolz“ auf ihr Volk, das „die Verteidigung verteidigt“ habe. Ruginienė sieht durch den Vorfall einen Vertrauensverlust. Šakalienė schrieb auf Facebook, dass sie nicht mit dem Premierminister zusammenarbeiten könne: „Weil wir unterschiedliche Verständnisse von den Prinzipien der Stärkung der Verteidigung haben.“ Geplante Anschaffungen müssten aufgegeben werden – vermutlich, weil ein neuer Haushaltsentwurf des Finanzministeriums Verteidigungsmittel auch für andere Aufgaben verwenden will. Zum Beispiel den Ausbau der Infrastruktur.
Spätestens jetzt könnte der Blick auf den Koalitionspartner NA gelenkt werden. Ihr Gründer und Chef Remigijus Žemaitaitis steht nicht nur wegen antisemitischer Äußerungen und Holocaust-Leugnung vor Gericht. Zuletzt forderte er öffentlich, Litauen solle den Wiederaufbau der eigenen Militärdivision verschieben, den Verteidigungshaushalt auf fünf Prozent begrenzen – und das Geld beispielsweise besser für Straßen einsetzen. Die Bundeswehrbrigade in Litauen muss letztlich bewegungsfähig sein.
Šakalienė hingegen mahnte in ihrem Abschiedsbrief: „Wir müssen in kürzester Zeit tun, was wir seit Jahrzehnten nicht getan haben.“ Andere Verteidigungsminister haben sich Budgetkürzungen gebeugt – das will sie nicht.
Litauen gerät plötzlich in Streit – um die Verteidigung, Russland und den rechten Flügel
Kontroversen über die Verteilung knapper Ressourcen gehören nicht nur in Litauen zum politischen Alltag. Doch die Nerven im Land sind angespannt. Von Vilnius bis zur weißrussischen Grenze sind es weniger als 50 Kilometer. Im Süden des Landes ist die Suwałki-Lücke, der schmale Korridor zwischen Weißrussland und der russischen Exklave Kaliningrad, beängstigend, den einige Beobachter als mögliches russisches Angriffsziel identifiziert haben. Und im Sommer stürzte im Südosten des Landes eine mit Sprengstoff beladene Drohne ab. Die Bereitschaft, sich gegen Moskau zu wehren, das Litauen während der Sowjetzeit teilweise mit äußerster Brutalität im Griff hatte, ist ein großes politisches Thema.
Der Politologe Marius Laurinavičius etwa übt auf Facebook seit Tagen scharfe Worte: Angesichts angeblicher Haushaltskürzungen schreibt er von einer „Kremlregierung“ in Vilnius und warnt vor „Sabotage“ im Interesse Russlands. Laurinavičius meint auch die Sozialdemokraten. Die Proteste im Land richten sich auch gegen die gesamte Regierung – vor allem aber gegen die Übergabe des Kulturministeriums in die Hände der NA.
Die Partei fördere „gewalttätige nationalistische, euroskeptische, prorussische und antisemitische Rhetorik“ und untergrabe demokratische Werte und Minderheitenrechte, erklärten die Organisatoren in einer Erklärung gegenüber der Partei Frankfurter Rundschau von Ippen.Media. Zuletzt polemisierte die NA auch gegen die in Litauen weit verbreitete ukrainische Flagge – zumindest gegen deren Verwendung in Ministerien und im Parlament.
Was die Verteidigung angeht, scheint die NA einigermaßen zu bekommen, was sie will. Ob die Koalition die aktuellen Turbulenzen unbeschadet überstehen wird, bleibt abzuwarten. Ein „Monat des Protests“ ist angekündigt – und der Streit um die Verteidigung dürfte für weiteren Zündstoff sorgen. Ein Nachfolger für Šakalienė steht jedoch offenbar bereit: Der „realistischste“ Kandidat sei ein weiterer ehemaliger Stellvertreter, Karolis Aleksa, berichtete die Nachrichtenagentur Elta unter Berufung auf „informierte Quellen“. (fn)