Nach den Explosionen elektronischer Kommunikationsgeräte im Libanon, die Dutzende Tote und Tausende Verletzte forderten, hat Israel ein härteres Vorgehen gegen die Hisbollah-Miliz im nördlichen Nachbarland signalisiert. Während Israel im Gazastreifen weiterhin gegen die mit der Hisbollah verbündete Hamas kämpft, kündigte Verteidigungsminister Joav Galant nun eine „neue Phase“ des Krieges an. „Der Fokus verlagert sich nach Norden“, sagte Galant nach Angaben seines Büros. Dort kämpft Israels Armee seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr gegen die Hisbollah. Es gibt Befürchtungen, dass ein ausgewachsener Krieg gegen die Miliz unmittelbar bevorstehen könnte.
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hat für heute Nachmittag eine Rede angekündigt. Angesichts der äußerst gefährlichen Lage plant der UN-Sicherheitsrat eine Krisensitzung. Diplomatenkreisen zufolge soll das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen am Freitag um 21 Uhr MESZ zusammenkommen.
UN-Generalsekretär António Guterres sieht im Nahen Osten das „ernste Risiko einer dramatischen Eskalation“. „Die Logik hinter der Explosion all dieser Ausrüstung besteht natürlich darin, dies als Präventivschlag vor einer größeren Militäroperation durchzuführen“, sagte Guterres bei einer Pressekonferenz in New York.
Insgesamt mehr als 3.000 Verletzte im Libanon
Während Guterres sprach, kamen Nachrichten über eine zweite Explosionswelle im Libanon. Hunderte Walkie-Talkies explodierten dort, töteten 20 Menschen und verletzten über 450 weitere. Wie schon am Vortag wurden zahlreiche Hisbollah-Mitglieder getroffen, hieß es aus libanesischen Sicherheitskreisen.
Nach Angaben des japanischen Herstellers Icom werden die Walkie-Talkies seit zehn Jahren nicht mehr produziert. „Das IC-V82 ist ein Handfunkgerät, das von 2004 bis Oktober 2014 gebaut und exportiert wurde, unter anderem in den Nahen Osten“, teilte das Unternehmen am Donnerstag mit. „Die Produktion wurde vor etwa zehn Jahren eingestellt und unser Unternehmen liefert sie nicht mehr.“
Am Dienstag waren an mehreren Orten im Libanon gleichzeitig Hunderte sogenannte Pager explodiert. Rund 2800 Menschen wurden verletzt, mindestens zwölf starben. Rettungskräfte aus dem Iran, der im Libanon enge Verbindungen zur Hisbollah hat, wollten rund 100 Verletzte ausfliegen. Die meisten Explosionsopfer hätten Verletzungen an Händen und Augen erlitten, sagte der Chef der Rothalbmond-Gesellschaft, Pirhussein Koliwand.
Die Hisbollah machte Israel für die Explosionen verantwortlich und kündigte Vergeltung an. Die israelische Seite selbst äußerte sich nicht zu den beiden Explosionswellen. Angriffe dieser technischen Raffinesse sind jedoch typisch für Israels Geheimdienste, die schon mehrfach ähnlich komplexe Angriffe zur Tötung hochrangiger Feinde durchgeführt haben. Wenn Israels Führung die Explosionen angeordnet hat, stellt sich die Frage, was sie damit erreichen wollte. Ehemalige israelische Militärs sagten dem Wall Street Journal, der Schritt sei wahrscheinlich darauf abgezielt worden, die Hisbollah zur Einstellung ihrer grenzüberschreitenden Angriffe zu zwingen.
Experten: Israel will Hisbollah zum Rückzug zwingen
„Der Zweck einer solchen Operation war nicht, die Situation zu eskalieren, sondern eine Einigung zu erzielen, die es den Menschen ermöglicht, in ihre Häuser zurückzukehren“, sagte Yossi Kuperwasser, ehemaliger Leiter der Forschungsabteilung des israelischen Militärgeheimdienstes, der US-Zeitung. Wegen der fast täglichen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und dem israelischen Militär mussten Zehntausende Bewohner auf beiden Seiten der Grenze ihre Häuser verlassen.
Der Angriff im Libanon sei ein Zeichen für die Hisbollah, dass Israel sich nicht auf den seit Beginn des Gaza-Kriegs andauernden Schlagabtausch entlang der Nordgrenze beschränken werde, zitierte das Wall Street Journal Amos Yadlin, den ehemaligen Chef des israelischen Militärgeheimdienstes. Die mit dem Iran verbündete schiitische Miliz müsse verstehen, dass „Israel die Spielregeln ändern kann“, sagte er.
Israel will die Hisbollah mit militärischem und diplomatischem Druck zum Rückzug hinter den Litani-Fluss, 30 Kilometer von der Grenze entfernt, zwingen – so sieht es eine UN-Resolution vor. Erst wenn in Gaza ein Waffenstillstand erreicht ist, wird die mit der Hamas verbündete libanesische Miliz ihre Angriffe auf Israel einstellen. Beide islamistischen Organisationen gehören zur sogenannten „Achse des Widerstands“ Irans – einem Bündnis gegen den gemeinsamen Feind Israel.
Israels Verteidigungsminister: Beginn einer neuen Kriegsphase
„Wir stehen am Anfang einer neuen Phase des Krieges – sie erfordert Mut, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen unsererseits“, sagte Israels Verteidigungsminister Galant. Bei einem Besuch auf einem Luftwaffenstützpunkt erinnerte er an das jüngst gesetzte Kriegsziel der Regierung: die Rückkehr Zehntausender geflüchteter israelischer Staatsbürger in das nördliche Grenzgebiet. Auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bekräftigte dieses Versprechen in einer Videoansprache. „Wir stellen Streitkräfte, Ressourcen und Energie für das nördliche Gebiet bereit“, sagte Galant nach Angaben seines Büros.
Laut Israels Generalstabschef Herzi Halevi ist die Armee bereit, alles Notwendige zu tun, um die Voraussetzungen für eine Rückkehr der israelischen Bewohner in ihre Häuser im Norden zu schaffen: „Wir verfügen noch über viele Fähigkeiten, die wir bisher nicht genutzt haben.“ Experten werten die Angriffe auf die Kommunikationsgeräte vieler Hisbollah-Mitglieder als schweren Schlag für die schiitische Miliz, der auch ihren Kampfgeist schwächen dürfte. Einige ihrer wichtigsten Kommunikationsmittel sind inzwischen gestört oder nicht mehr nutzbar.
Das Wall Street Journal zitierte mit der Angelegenheit vertraute Personen mit der Aussage, die Führung der Miliz sei nicht geneigt, einen umfassenden Krieg mit Israel zu beginnen. Die Hisbollah-Führer glauben nicht, dass eine israelische Bodeninvasion unmittelbar bevorsteht – rechnen aber mit weiteren Angriffen mit großer Wirkung.
UN-Generalversammlung fordert Rückzug Israels
Unterdessen forderte die UN-Generalversammlung mit einer deutlichen Mehrheit von 124 Stimmen Israels Rückzug aus den besetzten palästinensischen Gebieten binnen eines Jahres. 43 Staaten – darunter Deutschland – enthielten sich bei der Abstimmung über eine entsprechende Resolution im mit 193 Mitgliedstaaten größten UN-Gremium der Stimme. Israel selbst und die USA stimmten neben zwölf weiteren Ländern gegen den Resolutionsentwurf, dessen Annahme völkerrechtlich keine bindenden Folgen hat. Einige Staaten beteiligten sich nicht an der Abstimmung.
Mit der Resolution soll eine Rechtsauffassung des höchsten UN-Gerichts zum Nahostkonflikt durchgesetzt werden. Im Juli hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag geurteilt, die Besetzung der palästinensischen Gebiete sei illegal und müsse so schnell wie möglich beendet werden. Israel ignorierte dies – angesichts der nun verabschiedeten Resolution ist ein ähnliches Verhalten zu erwarten.