Der eigenen Fragmentierung und Verletzlichkeit ins Auge sehen: In den ersten Herbstwochen erschienen in Leipzig fast zeitgleich drei Debütalben lokaler Bands und Soloprojekte, die diese Themen jeweils auf eigene, teils brillante Weise musikalisch behandeln. Hinter allen Arbeiten verbergen sich suchende, teils langwierige Prozesse. Und diese Leidenschaft hört man den Werken an.
Los ging es mit „Claim“, dem Debütalbum von Shed Ballet, erschienen beim Leipziger Indie-Label Ketzerpop. Das Trio bezeichnet seine eigene Musik als „rudimentären Glam-Rock“: Einflüsse aus Wave, Postpunk und Psychedelic-Rock schimmern im Sound von Shed Ballet durch. Mit nur wenigen markanten musikalischen Stilmitteln schöpfen die drei Künstler enorme Energie. „Shed“ bedeutet „sich häuten“. Die Band sieht darin ein Symbol des Wandels, die Chance, sich neu zu erfinden und weiter zu wachsen.
Auch die Musik auf dem Album „Claim“ konnte mit ihren düsteren, treibenden, hellen und theatralischen Momenten wachsen. Seit 2014 spielen Hannah Becker, Doris Riedel und Kerstin Peupelmann als Shed Ballet zusammen. „Summer Went By“, das Finale des Albums, begleitet das Trio seit mehr als acht Jahren.
Melancholisch und fröhlich zugleich
Es beginnt ungewöhnlich langsam, mit aufgeladener Orgelfläche und feierlichem zweistimmigem Gesang: „What we hide / Is what we get“. Durch den Einsatz der verzerrten E-Gitarre verdoppelt sich die Frequenz des heruntergebrochenen, schleppenden Schlagzeugs, bis die Spannung mit strahlendem Orgel-Arpeggio und Tanzen vor melancholischer Fröhlichkeit ausbricht.
Schuppenballett: „Claim“ (Heretic Pop/Bandcamp)
Afar Odea: „Dir geht es bald besser“ (selbstverteilt/Bandcamp)
Schnelle Musik: „Ich will lieben, und ich liebe“ (Spaß in der Kirche/Bertus)
Live: 9. November 2024, „Super Fest“ Dresden
Der Sound von Afar Odea klingt völlig anders und deutlich weniger minimalistisch. Die Konzerte des Künstlers Konrad Jackisch, der live mit Band auftritt, wirken meist größer als der Raum, in dem sie stattfinden. Jetzt hat er endlich sein Debütalbum, es heißt „You’ll be better Soon“ und wurde im Eigenverlag veröffentlicht.
Überwältigend experimentell
Jackisch arbeitet seit 2018 an den Songs. Das Ergebnis sind acht experimentelle Popsongs, die über klassische Songstrukturen hinausgehen, Musik in ständiger Auflösung, oft ohne einfachen rhythmischen Puls. Völlig reduzierte Passagen brechen teilweise in riesige Hallräume ein und füllen diese mühelos. Der Sound von Afar Odea ist komplex, eigenwillig und klingt trotz aller Kraft zart. Jackischs Musik ist überwältigend anzuhören.
Im Titeltrack dringt die Botschaft durch stoisch geloopte, verfremdete Gesangsfragmente: „You’ll be better Soon“. Dazwischen bahnt sich eine Akustikgitarre ihren Weg. Die meist im Falsett gehaltenen Gesangsmelodien erinnern angenehm an den Progressive Pop der 1960er und 1970er Jahre. Zwischen den Klangelementen bilden sich durch offene Harmonien, die von Synthesizern erzeugt werden, immer wieder neue Muster. Dezente Beckenschläge umgeben das Arrangement, ein Chor hallt wie aus der Ferne. Ein einziger Schlag leert den Raum.
Kommt ans Licht: Afar Odea alias Konrad Jackisch
Foto: Karine Bravo
Die meisten Bands in Leipzig agieren in einem Umfeld, das Christoph Schirmer vom LiveKombinat, dem örtlichen Zusammenschluss der Leipziger Clubs und Livemusik-Veranstaltungsorte, als „DiY-Szene“ bezeichnet. In der Praxis handelt es sich weniger um eine bewusste Gemeinschaft als vielmehr um ein lockeres Netzwerk verschiedener Gruppen. „Aus meiner Sicht gibt es in Leipzig immer viele Suppen, die gekocht und nicht oder nur schlecht gemischt sind“, beurteilt Hannah Becker vom Shed Ballet die Atmosphäre.
Die rasante Verdichtung der seit über einem Jahrzehnt rasant wachsenden Stadt stellt die unabhängige Musikkultur Leipzigs, für die Freiräume unverzichtbar sind, immer wieder vor neue Herausforderungen. „Mir kommt es so vor, als ob die Szene seit Jahren stagniert, auch wenn immer von großer Dynamik in Leipzig die Rede ist, spiegelt sich davon nicht viel in der Subkultur wider“, beschreibt Konrad Jackisch.
Do-it-yourself hat Tradition
„Die DIY-Szene hat in Leipzig eine lange Tradition“, sagt Schirmer. „Temporäre Geschäfte im Osten und Westen der Stadt leisten wichtige Arbeit, ebenso wie besetzte Häuser in Connewitz, die es seit Anfang der 1990er Jahre gibt.“ Die Orte bestehen meist vorübergehend unfreiwillig.
Zuletzt mussten mehrere Kulturstätten im Osten der Stadt ihre Räumlichkeiten schließen, etwa das TIFF mit seinem regulären Konzertprogramm. „Die DiY-Szene kämpft mit Repression und Bürokratie. Kollektive und Akteure müssen sich oft nach einer gewissen Zeit neue Räume suchen“, erklärt Schirmer.
Insbesondere Lärmschutzmaßnahmen erschweren kleine Kulturräume, von denen viele Einzelhandelsflächen in Wohngebieten belegen. „Oft ist nicht die Lautstärke der Bands beim Konzert das Problem, sondern die Leute, die vor dem Laden stehen und reden“, erklärt Schirmer.
Vergleichsweise liberal
„Ehrlich gesagt muss man sagen, dass Leipzig im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten noch relativ liberal ist und die Behörden hier und da ein Auge zudrücken.“ Natürlich mangelt es in Zeiten knapper Budgets überall an der Finanzierung. Ohne unzählige Stunden ehrenamtlicher Arbeit gäbe es weder die Musiker noch die Bühnen der „DiY-Szene“.
Wir möchten Ihnen hier externe Inhalte anzeigen. Sie entscheiden, ob Sie dieses Element auch sehen möchten:
iframe width=“560″ height=“315″ src=“https://www.youtube.com/embed/gHPlYz6XTHM?si=ZVhdep_am_U6S4sV“ title=“YouTube-Videoplayer“ frameborder=“0″allow=“accelerometer; Autoplay; Zwischenablage schreiben; verschlüsselte Medien; Gyroskop; Bild-in-Bild; web-share“ referrerpolicy=“strict-origin-when-cross-origin“allowfullscreen>
Der Leipziger Musiker Bela Fast hat das Problem vorläufig in eine Lösung verwandelt: „Ich habe meine Tour einfach mit der Entschädigung, die ich von den Hausbesitzern für den Rauswurf bekommen habe, querfinanziert“, schreibt er in einer E-Mail. Auch seine Musik entstand über einen langen Zeitraum.
Die ersten Songs für sein Fastmusic-Projekt komponierte er, als er mit Mitte 20 als Straßenmusiker auf Sinnsuche durch Südfrankreich reiste. Kürzlich stellte er bei „Temporrrm“ sein Debütalbum „I want to love, and I love“ vor, das Bela Fast auf dem Berliner Label Fun in the Church veröffentlichte.
Der Konzertraum befindet sich im Westwerk, dem gleichen ehemaligen Industriekomplex, in dem sich auch der Proberaum des Shed Ballet befindet. Dort befindet sich auch das Haunted House-Studio, in dem sie die Songs ihres Albums aufgenommen haben. In den sehr minimalistisch produzierten und entspannten Tracks von Fastmusic steckt jede Menge Funk und Blues und in den besonders reduzierten mit Akustikgitarre steckt auch der unwiderstehliche Charme von Bedroom Pop.
Um die Spannung aufrechtzuerhalten, reicht oft eine kleine Menge sorgfältig geschichteten Musikmaterials über einfachen Beats einer Drum-Machine aus, wie die eindringliche Deadnote-Gitarrenmelodie und Bela Fasts sanfter, heller Gesang auf einer einzigen Note in „Funk in the Kitchen (Dream)“. . Dann beginnt der Bass zu spielen, die E-Gitarre fügt ein neues Motiv hinzu und es entsteht ein psychedelischer Sog.
„I want to love, and I love“, das Motiv des Albumtitels, zieht sich durch die zwölf Titel und kann als stiller Aufruf verstanden werden, die eigenen Wünsche im Kern zu finden und sie als Kompass zu lieben. Diesen Titel rein hedonistisch zu verstehen, wäre viel zu kurzsichtig.
http://www.taz.de/DIY-Musikszene-Leipzigs/!6046075/