Unerhörte Dinge sind erlaubt in der Letzte Nacht der Promsder Abschlussabend des größten klassischen Musikfestivals der Welt in Londons Royal Albert Hall. Sie können mitpfeifen, wenn das BBC Symphony Orchestra Händels feierliche Seht, der siegreiche Held kommt! Es kann in die Fantasie über britische Seemannslieder vom Proms-Mitbegründer Henry Wood. Es wird viel gestampft und gewippet und gesprungen und gejubelt. Vor allem aber dürfen sich auf dem Höhepunkt des Ganzen sechstausend patriotisch aufgewärmte Menschen in der viktorianischen Konzerthalle in Hyde Park zur den weißen Suprematismus verherrlichenden Hymne in einen imperial-chauvinistischen Rausch singen und dabei den Union Jack schwenken. Regel, Britannia, Britannia, beherrscht die Meere! So jedenfalls formulierte es der sogenannte „patriotische Teil“ der Abschlussbälle wenn man statt einer Ahnung ein eher entschiedenes moralisches Urteil hat.
Wenn Sie also, liebe Leser, einer der Millionen Menschen auf der ganzen Welt sind, die an diesem Samstagabend auf ihren Geräten Pimms-Cocktails genießen, sich aber schon immer gefragt haben, ob Herrschaft, Britannia! politisch eigentlich in Ordnung ist, zwei kleine Beruhigungen: Ihr seid nicht allein. Aber eure Sorgen sind völlig unbegründet. Ihr dürft nicht Herrschaft, Britannia!
Nicht nur mitsingen. Das sollten Sie tun, gerade als liberale Kosmopoliten. Heute erst recht.
Ja, es stimmt: Die Veranstalter der Proms selbst hatten gemischte Gefühle gegenüber dem Sea-Power-Song. 1969 BBC Herrschaft, Britannia!
aus dem Konzertprogramm, weil die Programmorganisatoren dachten, sie könnten damit das Fernsehpublikum auf dem europäischen Festland verschrecken. Das war ein sehr höflicher Gedanke. Und völlig falsch. Das Lied wurde auf dem Kontinent ein mindestens ebenso großer Hit Publikumsliebling wie auf der Insel. Das Lied wurde 2001 kein zweites Mal gespielt, als die
Letzte Nacht der Proms fand kurz nach dem 11. September statt und das Jubellied passte verständlicherweise nicht zur gedrückten Stimmung. Im Jahr darauf ließ Dirigent Leonard Slatkin eine rein instrumentale Version des Liedes spielen. Er fühle sich mit dem Lied „nicht ganz wohl“, sagte er in einem Interview. Es erscheine ihm „ein bisschen militaristisch“ und „veraltet“. Bei allem Respekt, der Maestro lag falsch.
Warum? Regel, Britannia einschließlich seiner eher selbstreferenziellen Zeile „Die Briten werden niemals Sklaven sein!“ entstand zu einer Zeit, als die Briten die größten europäischen Sklavenhändler waren. Im berüchtigten Dreieckshandel brachten Schiffe ab dem 16. Jahrhundert englische Exportgüter nach Westafrika, dann schwarze Menschen, angekettet an die nackten Decks, unter barbarischen Bedingungen auf die westindischen Inseln. Mindestens drei Millionen Menschen wurden von britischen Händlern über den Atlantik verschleppt. Sie wurden als Zwangsarbeiter auf Zuckerrohr- oder Baumwollplantagen gefoltert, während die Schiffe mit Rum oder Tabak beladen nach Liverpool, Bristol oder London zurückfuhren. Die britische Oberschicht veredelte ihre Teezeiten mit dem Zucker und die Einrichtung ihrer Stadthäuser mit den Profiten, die die Sklaven in der Karibik erwirtschafteten.
Sagt das nicht alles über dieses zynische Lied? Überhaupt nicht. Beginnen wir mit der Tatsache, dass Herrschaft, Britannia! feiert keineswegs die Anmaßung, britische Herrscher von der Sklaverei verschont zu halten, während es für Afrikaner kein Problem war. Der Kontext des Liedes war ein anderer. Als der Dichter James Thomson und der Komponist Thomas Arne das Lied 1740 schrieben, kämpften England und Spanien um die Vorherrschaft zur See, und Frankreich kam kurz darauf als Rivale hinzu. Nicht von einer anderen Nation dominiert werden wollen, militärisch, wirtschaftlich, politisch – wer könnte diesen Wunsch verurteilen? Hinzu kam ein Horror, den heute kaum noch jemand kennt: Von etwa 1500 bis 1800 machten muslimische Freibeuter aus dem Maghreb die europäischen Küsten bis hin nach England und Irland unsicher, weil sie Menschen gefangen nahmen. Historiker schätzen, dass die sogenannten Barbaresken-Piraten an der Nordküste Afrikas über eine Million Europäer verschleppten und versklavten. Für ein Auswanderungs- und Entdeckervolk wie die Briten war das Grund genug, sich eine robuste Seepolizei zu wünschen.
Erst mit Worten, dann mit Kriegsschiffen
Der wichtigere historische Kontext ist jedoch, dass die britische Marine schon lange eine Anti-Sklaverei-Marine war, als Herrschaft, Britannia! 1905 erstmals im Letzte Nacht der Proms Ja, Sie haben richtig gelesen. Weniger bekannt als die Verbrechen der Kolonialzeit sind die zivilisatorischen Fortschritte, die zeitgleich vom Mutterland kamen: Zwar waren die Briten nicht die einzigen, die Sklaverei praktizierten (sie existierte auf der ganzen Welt, und die Täter waren nicht nur weiß), aber sie waren eine der ersten Nationen, die für ihre Abschaffung kämpften – zunächst mit Worten, später sogar mit Kriegsschiffen.
Adam Smith, einer der Pioniere des Liberalismus, schrieb 1759 in seinem Theorie ethischer Gefühle: „Niemand hat das Schicksal grausamer behandelt als jene (afrikanischen) Heldenvölker (…), die von erbärmlichen Menschen unterworfen wurden, die weder die Tugenden der Länder besitzen, aus denen sie stammen (…) und deren Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Instabilität zu Recht die Verachtung derer auf sich ziehen, die von ihnen erobert wurden.“ Mit anderen Worten, was die britischen Sklavenhändler den Afrikanern antun, ist abstoßend und eine Beleidigung der Britisch
sich selbst.
Auch strenge Protestanten auf der Insel begannen schon früh, sich gegen die Sklaverei aufzulehnen. Für Abolitionisten wie William Wilberforce war es unerträglich, dass Menschen ihre Mitgeschöpfe wie Tiere behandelten. Wenn der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen sei, so argumentierten sie, dann folge logischerweise, dass alle Menschen gleich geschaffen seien. Das Emblem der Anti-Sklaverei-Bewegung war auf Plakaten, Münzen oder Tellern ein schwarzer Mann, der seine gefesselten Hände flehend zu den Worten erhob: „Bin ich nicht ein Mensch und ein Bruder?“ Ab 1790 gingen im Unterhaus Hunderte von Petitionen zur Abschaffung der Sklaverei ein. Fast ein Drittel aller erwachsenen männlichen Briten unterzeichneten sie, schreibt der Historiker John Stauffer in Oxford Handbuch der Sklaverei in Amerika. Progressive Abgeordnete präsentierten dem Parlament Horrorgeschichten von den karibischen Plantagen und schockierende Diagramme, die zeigten, wie dicht gedrängt Sklaven auf Schiffen aus Westafrika zusammengepfercht waren. In englischen Geschäften gab es Zuckerdosen mit der Notiz „Nicht von Sklaven gemacht“ kaufen.
Im August 1807 hatten die Abolitionisten endlich Erfolg. Das britische Parlament schaffte den Sklavenhandel ab. Doch damit nicht genug: Ab 1808 machte das Westafrikageschwader der Royal Navy Jagd auf Sklavenhandelsschiffe. Über fünfzig Jahre lang war das Geschwader im Einsatz, fing 1.600 Sklavenschiffe ab und brachte 150.000 afrikanische Gefangene an Land. Rund 1.500 britische Seeleute starben dabei, entweder bei Seeschlachten oder an Tropenkrankheiten.