Die Tarifrunde für die drittgrößte deutsche Industriebranche findet in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase voller Veränderungen und Herausforderungen statt. Dessen sei sich die IGBCE bewusst, erklärte IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich. „Aber es kann nicht sein, dass unsere Mitglieder die Rechnung bezahlen müssen und auf der Strecke bleiben. Sie haben zunehmend dieses Gefühl.“ Er betonte: „Wir werden es nicht hinnehmen, dass diese Krise auf Kosten der ohnehin schon stark belasteten Arbeitnehmer ausgetragen wird. Unser Ziel in dieser Tarifverhandlungsrunde ist die Einkommensentwicklung und die Sicherung von Industriearbeitsplätzen. Das sollte auch im Interesse der Arbeitgeber sein.“
Das Realeinkommen der Arbeitnehmer ist unter anderem aufgrund der Pandemie und der Entwicklung der Energiepreise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gesunken. Obwohl sich dieser Trend mit der letzten Tarifverhandlungsrunde umkehrte, konnte er laut dem IGBCE-Verhandlungsführer nicht vollständig ausgeglichen werden. Eine Nullrunde, wie sie die Arbeitgeber im Auge haben, käme daher nicht in Frage, bestätigte Heinrich. Das Leben für die Arbeitnehmer ist teuer und die Inflationsrate ist zuletzt wieder leicht gestiegen. Ziel muss es daher sein, ihre Kaufkraft zu stärken. „Das stimuliert auch die heimische Konsumnachfrage und trägt zur wirtschaftlichen Erholung bei“, erklärte Heinrich.
Dass die Chemieindustrie unter Druck steht, liegt nicht an den Lohnkosten. Der Lohn- und Gehaltsanteil am Umsatz in der chemischen Industrie ist im Branchenvergleich gering; im Jahr 2024 waren es rund 15 Prozent. Heinrich stellte klar: „Wir werden die Branche nicht durch Lohnverzicht retten.“ Zudem sei die Lage in der Branche nicht ganz schlecht, betonte er: Die Pharmaindustrie habe sich in den vergangenen zwei Jahren spürbar besser entwickelt und neue Investitionen getätigt. Und im nächsten Jahr dürfte die deutsche Wirtschaft dank des Sonderfonds und des „Investitionsboosters“ wieder wachsen.
Doch die deutsche Wirtschaft stagniert seit fast drei Jahren. Besonders unter Druck steht die Chemieindustrie: Die Rohstoff- und Energiepreise in Deutschland sind noch immer nicht wettbewerbsfähig und die Infrastruktur ist vielerorts veraltet. Der CO2-Preis im europäischen Emissionshandel wird auch für energieintensive Industrien im globalen Wettbewerb zu einer immer größeren Belastung. Im Organisationsbereich der IGBCE haben inzwischen mehr als 150 Unternehmen die Stilllegung von Maschinen und Anlagen umgesetzt oder angekündigt. In rund 90 Betrieben drohen Werksschließungen.
Dieser Trend lässt sich tarifpolitisch nicht umkehren. Allerdings will die IGBCE in der Tarifrunde – gemeinsam mit den Arbeitgebern – unterstützende Maßnahmen entwickeln, die Arbeitsplätze sichern, Ressourcen für Innovationen und Investitionen fördern und Standortvorteile durch flexible Regelungen stärken. Fachkräfteradar, Karrierekompass und flexible Arbeitszeitregelungen sind Beispiele für solche innovativen Tarifinstrumente. „Unsere Menschen brauchen Sicherheit in Krisenzeiten“, sagte Heinrich. Die IGBCE fordert daher in dieser Tarifrunde die Entwicklung tarifvertraglicher Instrumente, um Arbeitsplätze zu sichern und den Standort zu stärken.
Angesichts der angespannten Lage hat sich der 30-köpfige Hauptvorstand der IGBCE bewusst nicht auf eine konkrete Anzahl an Forderungsempfehlungen festgelegt. Auch neue Wege will die Gewerkschaft gehen: In der anstehenden Forderungsdebatte setzt die IGBCE auf eine noch stärkere Einbindung und Beteiligung ihrer Mitglieder. Dafür sorgen unter anderem mehr als 2.200 betriebliche Tarifbotschafter, die auch die nun beginnende Forderungsdiskussion in den Betrieben begleiten werden. Hier können Mitglieder mitreden, mit ihren Kollegen diskutieren, mit ihren Vertretern debattieren, ihre Meinungen, Erfahrungen und Einstellungen einbringen – und so mitbestimmen, welche Empfehlungen an die Tarifausschüsse gehen.
Ab Ende November werden die regionalen Tarifkommissionen ihre Forderungen für die jeweiligen Regionen formulieren, bevor die Bundestarifkommission am 16. Dezember über die endgültige Nachfrage für die Chemietarifrunde entscheidet.
Die regionalen Tarifverhandlungen finden dann im Januar 2026 statt. Kommt es zu keiner Einigung, treffen sich IGBCE und Arbeitgeber Anfang Februar auf Bundesebene. Die erste Bundestarifverhandlung ist für den 3. und 4. Februar in Hannover geplant, die zweite Bundesrunde am 23. und 24. Februar in Wiesbaden. Der aktuelle Tarifvertrag läuft bis zum 28. Februar 2026.
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