Horta de Sant Joan, Gósol, Cadaqués: Böhmische Dörfer? Nein, Katalanisch. Einer liegt im Weinland, der andere in den Bergen und der dritte an der Küste. So unterschiedlich sie auch sind, alle drei inspirierten den jungen Pablo Picasso so sehr, dass sie aus seiner Malerei nicht mehr wegzudenken waren. „Ich habe in Horta alles gelernt, was ich kann“, sagte er selbst über einen der Orte. Grund genug, einen Blick darauf zu werfen und einen der weniger bekannten Teile Kataloniens zu erkunden.
Von Barcelona aus führt die Route nach Südwesten durch die raue Landschaft des Priorats, wo die Reben für einige der besten Weine Spaniens wachsen. Dann geht es weiter nach Terra Alta. Mandel- und Olivenbäume prägen die rotbraune Erde. Schließlich erscheint der Berg Santa Bàrbara, das Symbol von Horta de Sant Joan.
Am Ortseingang stehen unverputzte Neubauten, über der Straße hängen behelfsmäßige Stromkabel. An der Plaça Catalunya, dem neuen Stadtzentrum, sind die Barterrassen gut gefüllt und das Stimmengewirr ist unverkennbar. Im historischen Zentrum der Stadt rund um die Plaça de l’Església herrscht jedoch Totenstille. Seit Picasso im Jahr 1909 hierher kam, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Das Haus, in dem sich einst das Hostal del Trompet befand, steht noch immer neben den mittelalterlichen Arkaden. Damals sollen Frauen aus der Stadt aus Protest Steine gegen das Fenster geworfen haben, als der Maler hier in einer wilden Ehe mit seiner Geliebten Fernande Olivier lebte.
Viele solcher Anekdoten ranken sich um Picassos Aufenthalt in Horta. „Wenn er nicht gerade malte, gingen er und Fernande ins Café und spielten Domino mit den Dorfbewohnern“, sagt Elias Gaston, der das Centre Picasso in einem ehemaligen Krankenhaus aus dem 16. Jahrhundert leitet. Und dass die attraktive Pariserin mit ihren bunten Schals für Aufsehen sorgte. Picasso besuchte Horta zum ersten Mal im Jahr 1898, als er 16 Jahre alt war. Er kehrte krank und deprimiert von Madrid nach Barcelona zurück, ohne zu wissen, was er als nächstes tun sollte, nachdem er sein Kunststudium abgebrochen hatte. Da kam ihm die Einladung seines Freundes Manuel Pallarès, ihn in sein Heimatdorf zu begleiten, gerade recht. Aus ein paar Sommerwochen wurden acht Monate, die den jungen Pablo völlig veränderten.
Schon die Reise wird für ihn zur Offenbarung. Von Tortosa aus müssen er und sein Freund vierzig Kilometer durch das Ebro-Tal wandern. So anstrengend es auch ist, der junge Pablo ist total fasziniert. „Picasso sah sein ganzes Leben lang diesen Aufstieg in die Sierra – die weißen Wasser, die sie überqueren mussten, die hoch in der Luft kreisenden Adler, die im Wald wühlenden Wildschweine, die fast hörbare Stille des Hochlandes – in goldenem Licht.“ er schreibt Picasso-Experte John Richardson.
Im Dorf angekommen erkunden Manuel und Pablo die Bergregion Els Ports mit ihren tausend Meter hohen Gipfeln und tiefen Schluchten. Heute locken die Berge aufmerksamen Ökotourismus an. Zu dieser Zeit war es weitgehend unbebaut. Das hält die jungen Künstler jedoch nicht davon ab, sich mit Leinwänden und Staffeleien auf den Weg zu machen und mehrere Wochen lang in einer Höhle zu leben. Am Morgen bereiten sie ein herzhaftes Frühstück aus Reis, Bohnen, Kabeljau und Kichererbsen zu, dann machen sich alle an die Arbeit. Bald entstand eine ganze Reihe von Picasso-Zeichnungen mit Bäumen, Hirten und Ziegen sowie dem Bauernhof Mas del Quiquet, der ebenso wie die Höhle den Zahn der Zeit überdauert hat.
Die jungen Künstler führen ein einfaches, glückliches Leben. Später wird Pablo von den reinsten Empfindungen schwärmen, die diese Zeit charakterisieren. Und das Messer, mit dem er hier Brot, Wurst oder Holz geschnitten hat, wird er für den Rest seines Lebens behalten. 1909 kehrte er nach Horta zurück, um nach dem Vorbild von Cézannes Montagne Sainte Victoire an der Muntanya Santa Bàrbara zu arbeiten. Er befindet sich mitten im Abenteuer des Kubismus und dekonstruiert die Formen des Berges, um sie neu anzuordnen und mit dem Kopf der Geliebten zu verschmelzen. Was dabei herauskam, zeigen die Faksimiles seiner Werke im Centre Picasso.
Eigentlich wollte Picasso 1906 nach Horta zurückkehren. Doch aus irgendeinem Grund fiel die Entscheidung auf Gósol, ein Bergdorf dreihundert Kilometer weiter nördlich in den Pyrenäen. Erneut steckt er in einer tiefen Krise. Monatelang arbeitete er in Paris an dem Porträt seiner Mäzenin Gertrude Stein, doch es gelang ihm nicht. Jetzt braucht er neue Inspiration. Ende Mai reist er mit Fernande nach Barcelona und von dort in die Pyrenäen. In Guardiola de Berguedà angekommen, setzen die beiden die achtstündige Reise mit Esel und Maultiertreiber fort. Heute dauert die Fahrt für die Strecke nur noch eine halbe Stunde. Es ist verlockend, immer wieder anzuhalten, denn mit jeder Kurve wird die Landschaft atemberaubender.
Tipps
- Ankunft: Ausgangspunkt der Grand Tour ist Barcelona, das von Berlin aus von Vueling, Easyjet und Ryanair angeflogen wird. Horta de Sant Joan, Gósol und Cadaqués sind mindestens einmal täglich in drei bis vier Stunden mit dem Bus zu erreichen, z. B. Einige sind auch direkt vom Flughafen aus erreichbar (www.hife.es, www.alsa.com, www.moventis .es). Viel einfacher geht es mit einem Mietwagen.
- Besichtigung: In Horta de Sant Joan und Gósol zeigen die Museen namens Centre Picasso die dort entstandenen Werke des Künstlers (www.centrepicasso.net, www.elbergeda.cat). In Cadaqués gibt es kaum Spuren von Picasso. Stattdessen trifft man auf Schritt und Tritt auf seinen Fan Salvador Dalí, der hier jahrzehntelang lebte und dessen Anwesen als Museum zugänglich ist (www.salvador-dali.org). Der Naturpark Cap de Creus mit seiner bizarren Landschaft an der östlichsten Spitze Spaniens ist auf jeden Fall sehenswert. Alle drei Picasso-Standorte eignen sich auch ideal zum Wandern. Eine gute Ergänzung – wenn Sie in Barcelona sind, gibt es das Museu Picasso (www.museupicasso.cat). Alle weiteren Informationen finden Sie unter www.turismehortasantjoan.cat, www.elbergeda.com, www.visitcadaques.org und www.katalonien-tourismus.de
Auf 1.400 Metern liegt Gósol eingebettet in die Berglandschaft des Naturparks Cadí-Moixeró mit markanten Gipfeln wie dem Pedraforca, der mythischen Steingabel. Der Ort selbst mit seinen archaischen Steinhäusern wirkt wie aus der Zeit gefallen. In der Mitte begrüßt Sie am Brunnen die „Dona dels Pans“, die „Brotträgerin“, eine Hommage an Picassos Gemälde – die sogenannte katalanische Mona Lisa, die hier entstand. Etwas weiter entfernt befindet sich das ehemalige Gästehaus Cal Tampanada, in dem das Paar wohnt.
Picasso freundet sich mit dem älteren Vermieter des Cal Tampanada an, spielt Karten mit den dortigen Schmugglern und taucht ganz in das Dorfleben ein. Die Unbeschwertheit, die den Aufenthalt prägt, überträgt sich auch auf die hier entstandenen Werke. »Sobald er in seine Heimat und insbesondere auf das Land zurückkehrte, war er von Frieden und Gelassenheit erfüllt. „Das machte seine Werke leichter, luftiger, weniger gequält“, schreibt Fernande Olivier rückblickend. Tatsächlich sind in Gósols neu renoviertem Centre Picasso Faksimiles von Werken in hellen Ocker-, Rosa- und Terrakottatönen zu sehen, die auf die fröhliche Stimmung des Malers schließen lassen.
Picassos Kunst erfährt in Gósol eine tiefgreifende Metamorphose. Zu Beginn malte er Akte, die an Vorbilder der klassischen Antike erinnerten. Anschließend experimentiert er immer freier mit Formen, die zum Primitivismus tendieren. Die Gesichtszüge erinnern oft an die Holzfigur der sitzenden Jungfrau aus dem 12. Jahrhundert, die damals in der Kirche von Gósol stand. Und die großen Augen mit dem zur Maske erstarrten starren Blick prägen fortan viele seiner Werke. Nicht zuletzt die „Demoiselles d’Avignon“, das erste Meisterwerk der Moderne, das bald darauf in Paris entstand. »Als Picasso Ende Mai 1906 nach Gósol kam, war er ein Maler des 19. Jahrhunderts; Als er zwölf Wochen später ging, trug er die in seinen Leinwänden aufgerollten Fäden der Moderne mit sich“, ist Kunstexpertin Jèssica Jaques Pi überzeugt.
Diese zarten Anfänge des Kubismus vollendete der Künstler 1910 in einem anderen katalanischen Dorf. Diesmal fiel die Wahl auf Cadaqués an der nördlichen Costa Brava. Heute ist die hübsche Küstenstadt Salvador Dalí gewidmet, der hier jahrzehntelang lebte. In ihrem Gefolge hat sich eine kleine, weltoffene Künstlergemeinschaft etabliert; im Sommer jagt eine Eröffnung die nächste. Die einzige Erinnerung an Picasso ist eine verblasste Gedenktafel.
Damals brauchte er eine Auszeit von der Kunstwelt der französischen Metropole und folgte seinem Künstlerfreund Ramon Pitxot, dessen Familie ein Sommerhaus in Cadaqués besitzt. „Je suis le roy de la boullavaise“, schwärmt er bald in seinem holprigen Französisch in einem Brief an Guillaume Apollinaire – und meint damit den katalanischen Fischeintopf Suquet des Peix, der hier noch heute köstlich ist. Gleichzeitig arbeitet er mit großer Konzentration an der Weiterentwicklung des Kubismus. Während viele Maler das Bilderbuchdorf mit den strahlend weißen Häusern in fröhlichen Pastelltönen auf Leinwänden festhalten, dominieren bei Picasso dunkle Braun- und Grautöne. Auch schwarze Linien, die ins Leere reichen. Alles wirkt kalt, destruktiv und so verstörend, dass selbst die Freunde in Paris irritiert sind. Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler fragt sich sogar, ob der 28-Jährige verrückt geworden ist.
Doch der Kunstkritiker Ricard Mas ist sich sicher, dass zeitgenössische Kunst ohne die Grundlagen, die er in seinen wenigen Monaten am Meer gelegt hat, nicht zu verstehen ist: »Cadaqués verkörpert die „weiße Stille“ des Kubismus. Ein trügerischer Spiegel, denn unter der flachen, glatten Oberfläche der Bildschirme spielen sich wahre Dramen ab.« Jetzt ist es vorbei. Heute wie eh und je sitzt man mit einem Glas Rosé in der Hand auf der Terrasse der Marítim Bar und blickt auf die malerische Bucht am Mittelmeer, in der gerade ein junger Künstler arbeitet. Unzählige Male verewigt und immer jungfräulich schön!
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