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Israel verhaftet den Militärstaatsanwalt – warum?

Yifat Tomer-Yerushalmi hat gestanden, ein Video aus dem berüchtigten Internierungslager Sde Teiman durchsickern zu lassen. Der Anwalt ist bereits zurückgetreten und muss vor Gericht aussagen. Der Fall kommt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sehr gelegen.


Yifat Tomer-Yerushalmi: Die ehemalige Militärstaatsanwältin sitzt jetzt im Gefängnis – ihr wird unter anderem die Weitergabe geheimer Informationen vorgeworfen.

Oren Ben Hakoon / AP

Der Yifat Tomer-Yerushalmi-Skandal hat die wichtigsten Institutionen des israelischen Staates erschüttert: die Armee, die Justiz und die Politik. Zuletzt spitzten sich die Ereignisse zu: Am Freitag reichte die oberste Anwältin der israelischen Armee ihren Rücktritt ein. Am Sonntag hieß es, der 51-Jährige sei vermisst.

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An einem Strand im Norden von Tel Aviv wurden Leuchtraketen in den Nachthimmel abgefeuert, um Tomer-Yerushalmi zu finden. Offenbar fand ihre Tochter einen Brief, den sie als möglichen Abschiedsbrief interpretierte. Gegen 19 Uhr (Ortszeit) wurde die Anwältin mit tropfender Kleidung am Strand gefunden – allerdings ohne ihr Handy. Die Polizei nahm Tomer-Yerushalmi in Gewahrsam.

Laut israelischen Medien vermutet die Polizei, dass es sich bei dem Selbstmordversuch um eine Täuschung des Militärstaatsanwalts handelte, um ihr Handy im Meer verschwinden zu lassen. Darin sollen Beweise enthalten sein, die in einem Strafverfahren gegen den obersten Anwalt der Bundeswehr verwertet werden könnten.

Angeblicher Missbrauch von Gaza-Häftlingen

Die Affäre begann im Sommer 2024, als ein Video aus dem israelischen Militärgefängnis Sde Teiman auftauchte. Die Aufnahme zeigt eine mutmaßliche Gruppenvergewaltigung eines palästinensischen Gefangenen durch israelische Soldaten. Der tatsächliche Missbrauch ist nicht zu erkennen, da die Soldaten mit ihren Schilden eine Art Schutzschirm bilden. Das Video und die Zustände im Internierungslager lösten eine Welle der Empörung aus.

Nach Kriegsbeginn brachte die israelische Armee Hamas-Kämpfer aus Gaza nach Sde Teiman sowie Hunderte palästinensische Zivilisten, die später ohne Anklageerhebung freigelassen wurden. Internationale Medien berichteten über Hinweise auf Folter in Sde Teiman, darunter auch die NZZ. Aussagen von entlassenen Gefangenen, israelischen Soldaten und Ärzten sowie Krankenhausberichte deuten auf schwere Misshandlungen der Gefangenen hin. Israelischen Medienberichten zufolge wurde der im Video zu sehende Mann im Rahmen des jüngsten Geisel- und Gefangenenaustauschs ohne Befragung freigelassen.

Am Sonntagabend suchten Polizei und Militär nach dem seit mehreren Stunden vermissten Militärstaatsanwalt.

Nir Elias/Reuters

Am Freitag gab Yifat Tomer-Yerushalmi zu, die Weitergabe des Videos genehmigt zu haben, und reichte ihren Rücktritt ein. Dies verhinderte, dass sie von Verteidigungsminister Israel Katz entlassen wurde. Der frühere Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte am Freitag, Tomer-Yerushalmi habe ihn angelogen, als er sie nach der Untersuchung des Videolecks fragte. Sie soll auch den israelischen Stabschef belogen haben.

Am Montag musste der ehemalige Militärstaatsanwalt erstmals vor dem Bezirksgericht Tel Aviv aussagen. Medienberichten zufolge werden ihr Betrug und Untreue, Amtsmissbrauch, Justizbehinderung und Offenlegung geheimer Informationen vorgeworfen.

Der rechte Flügel Israels hat die Ermittlungen gestürmt

Am Sonntag griff auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit scharfen Worten in den Vorfall ein. Das durchgesickerte Video der mutmaßlichen Misshandlung sei „möglicherweise der schwerste PR-Angriff, den Israel seit seiner Gründung erlebt hat“. Für Netanyahu und viele rechte israelische Medien scheint die illegale Veröffentlichung des Videos an die Medien ein größerer Skandal zu sein als die mögliche Misshandlung der Gefangenen.

Offenbar hat Tomer-Yerushalmi das Material an die Medien weitergegeben, weil ihrer Meinung nach der Militärjustiz der Wille fehlte, den Vorfall zu untersuchen. In ihrem Rücktrittsschreiben stellte sie fest, dass sie die Veröffentlichung an die Medien genehmigt hatte, „um falsche Propaganda gegen die Strafverfolgungsbehörden der Armee aufzudecken“. Tomer-Yerushalmi schrieb weiter, dass es die Pflicht der Behörden sei, eine Untersuchung einzuleiten, wenn ein begründeter Verdacht auf Gewalt gegen einen Gefangenen bestehe. „Leider überzeugt dieses Grundprinzip nicht mehr alle davon, dass es Handlungen gibt, die nicht gegen Gefangene begangen werden sollten.“

Im Anschluss an die Veröffentlichung des Materials wurden im vergangenen Jahr neun israelische Soldaten festgenommen und beschuldigt, den Häftling misshandelt zu haben. Fünf von ihnen wurden angeklagt. Schon damals galt in rechten bis rechtsextremen Kreisen nicht die angebliche Misshandlung, sondern die Festnahme der Soldaten als Skandal. „Aufgrund der brutalen Gewalt am 7. Oktober 2023 haben die Rechten und die meisten Israelis wenig Verständnis für palästinensische Gefangene“, sagt Forscher Shmuel Rosner vom Jewish People Policy Institute in Jerusalem in einem Interview. „Seitdem sind vielen Israelis die Menschenrechte palästinensischer Gefangener weitgehend gleichgültig.“

Ein Foto von palästinensischen Gefangenen in Sde Teiman aus dem Winter 2023, verbreitet von der israelischen Organisation Breaking the Silence.

Das Schweigen brechen über AP

Im Juli 2024 wurde diese Mentalität deutlich: Ein rechtsextremer bewaffneter Mob stürmte Sde Teiman, um die Ermittlungen zu verhindern. Sogar einem Mitglied von Netanyahus Likud-Partei gelang es, illegal in die zum Internierungslager umgewandelte Militärbasis in der Negev-Wüste einzudringen.

Der tiefe Fall des Generalmajors

Laut Shmuel Rosner könnte der Fall kein größeres Geschenk für Netanjahu und seine Koalition sein. „Erstens kann Netanyahu die angebliche Heuchelei des gesamten Justizsystems aufdecken, was für seine Regierung sehr wichtig ist“, sagte Rosner. Der Skandal könnte der Regierung neue Munition liefern, um die sogenannte Justizreform voranzutreiben. „Zweitens ermöglicht dies Netanjahu, die Schuld für Israels schlechtes Image in der Welt allein dem Militärstaatsanwalt zuzuschieben. Sie ist ein nützlicher Sündenbock.“

Yifat Tomer-Yerushalmi ist die erste Frau, die den leitenden Posten der Generalstaatsanwältin der israelischen Streitkräfte (IDF) innehat, und erst die zweite weibliche Generalmajorin. Die Mutter von drei Kindern arbeitete fast dreißig Jahre lang für die Rechtsabteilung der IDF. Noch nie zuvor wurde in Israel ein Offizier im Rang eines Generalmajors aufgrund einer strafrechtlichen Untersuchung zum Rücktritt gezwungen. Das Gericht entschied am Montag, dass Tomer-Yerushalmi zunächst noch drei Tage im Gefängnis bleiben wird.

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