Herr Heyden, Schwarz-Rot verschärft bei der Grundsicherung die Linie gegenüber den Betroffenen deutlich. Was halten Sie insgesamt von den Plänen?
Für eine abschließende Bewertung der Pläne ist es noch zu früh. Dabei handelt es sich zunächst um Absichtserklärungen der Bundesregierung; Wir müssen abwarten, wie Bundestag und Bundesrat tatsächlich entscheiden.
Wer trotz Termin dreimal nicht beim Jobcenter erscheint, kann künftig alles verlieren, auch den Regelsatz und die Übernahme der Wohnkosten. Wie oft kommt es vor, dass das Jobcenter überhaupt nichts von den Kunden hört und sie sozusagen verschwinden?
Es ist nicht die Regel, dass Kunden des Jobcenters sich nicht an uns wenden. Dennoch gibt es solche Fälle. Allerdings gibt es hierfür keine einheitliche statistische Definition, sodass uns keine entsprechenden Zahlen vorliegen. Um es auf den Punkt zu bringen: Meine Kollegen arbeiten jeden Tag daran, die Existenz vieler Kunden zu sichern. Es liegt sicherlich nicht in unserem Interesse, Notfälle zu verursachen.
Wir möchten daher eine pragmatische Lösung finden: Bei mangelnder Kooperation sollte das Jobcenter die Möglichkeit haben, den Service kurzfristig zu pausieren. Sobald sich die betroffene Person dann beim Jobcenter meldet und der Mitwirkungspflicht nachkommt, würde die Zahlung sofort wieder aufgenommen – auch rückwirkend. Genau das ist der Unterschied zwischen einer Sanktion und einem vorübergehenden Leistungsentzug.
Was sind erfahrungsgemäß die Gründe dafür, dass jemand nicht erscheint?
Die Gründe dafür können vielfältig sein, darunter Motivationsprobleme sowie körperliche oder seelische Erkrankungen. Wenn jemand Sie überhaupt nicht mehr kontaktiert und wir den begründeten Verdacht haben, dass die Person nicht mehr an der angegebenen Adresse wohnt, können wir die Dienste vorübergehend einstellen. Die Angabe der aktuellen Adresse des Kunden zur Erreichbarkeit ist eine gesetzliche Mitwirkungspflicht.
Eine Härtefallregelung soll sicherstellen, dass die harte Komplettsanktion etwa psychisch erkrankte Menschen nicht trifft. Wie gut kann in der Praxis eine Differenzierung erfolgen, damit die Regel bei den richtigen Personen ankommt?
Eine vollständige Kürzung kann nur dann erfolgen, wenn der Kunde die Mitwirkung vollständig verweigert, also überhaupt kein Kontakt mehr besteht. Wir müssen von den Betroffenen einfach ein Mindestmaß an Mitarbeit einfordern. Aber auch hier wäre unser pragmatischer Ansatz des vorübergehenden Leistungsentzugs hilfreich. Wir könnten dann die Zahlungen sofort wieder aufnehmen, sobald sich die Betroffenen bei uns melden.
Die Frage, wer tatsächlich erwerbsfähig ist, sollte „realistischer“ definiert werden. Dadurch soll verhindert werden, dass viele Menschen in der Bürgerhilfe stecken bleiben, wenn faktisch klar ist, dass sie sich beispielsweise aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht selbst versorgen können. Wie verbreitet ist dieses Problem?
Die Definition der „Verdienstfähigkeit“ ist ein sehr wichtiger Punkt. Nach heutigem Stand gilt als erwerbsfähig, wer drei Stunden am Tag arbeiten kann. Diese drei Stunden müssen nicht einmal am Stück sein. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der vorwiegend nach Fachkräften sucht, gibt es solche Arbeitsplätze praktisch nicht. Hier brauchen wir eine alltagstaugliche Definition. Menschen mit schweren körperlichen oder geistigen Problemen, die nur eingeschränkt arbeiten können, gehören nicht in die Grundsicherung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Für sie ist die bestehende Grundsicherung bei Arbeitsunfähigkeit ohne Arbeitsvermittlung sinnvoller.
Auch für Personen, die ein Stellenangebot ablehnen, sollen die Regeln deutlich verschärft werden, bis hin zur Streichung sämtlicher Geldleistungen. Ist dies ein Tool, mit dem Ihre Mitarbeiter mehr erreichen können als bisher?
In der Praxis kommt es selten vor, dass Menschen ein Stellenangebot ablehnen. Bei uns liegt das Problem eher in der Nichtmeldung, also dem Versäumen von Terminen durch den Kunden ohne wichtigen Grund. Deshalb begrüßen wir alle Veränderungen, die das gegenseitige Engagement zwischen Kunden und Jobcenter stärken.
Haben Sie Beispiele dafür?
Erstens: Im Kooperationsplan vereinbaren wir in Absprache mit unseren Kunden gegenseitige Rechte und Pflichten. Darauf müssen sich beide Seiten verlassen können, weshalb wir es begrüßen, wenn dieser Kooperationsplan künftig verbindlicher wird. Zweitens: Die Teilnahme der Kunden an den Beratungsterminen, zu denen wir sie einladen, ist unerlässlich, um sie optimal und individuell betreuen zu können. Wir haben ein großes Portfolio an Unterstützungsmöglichkeiten, können dieses aber nur umsetzen, wenn Menschen mit uns zusammenarbeiten. Insofern begrüßen wir alle Veränderungen, die das Engagement stärken und dazu beitragen, dass Kunden, die bisher auf eine Beratung verzichtet haben, wieder zum Jobcenter gehen.
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Was, wenn auch Kinder in einem Haushalt leben und plötzlich viel Geld fehlt: Geht Schwarz-Rot angesichts der Lebensrealität der Betroffenen nicht zu weit?
Für uns ist es ganz klar, dass wir in unserem täglichen Handeln eine Gefährdung des Kindeswohls ebenso vermeiden müssen wie die drohende Obdachlosigkeit. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Gesetzgeber dies berücksichtigen wird.
Das Gesetz sollte klarstellen, dass von Alleinstehenden eine Vollzeitbeschäftigung erwartet wird. Kommt es oft vor, dass Alleinstehende lieber nur ein paar Stunden arbeiten und sich sonst etwas aufladen?
Jeder Jobcenter-Kunde hat individuelle Gründe, Hilfe zu benötigen. Und nur wer seine Hilfsbedürftigkeit anhand von Kontoauszügen und Ähnlichem nachweisen kann, hat Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung. Mit unserem Alltag haben solche Klischees kaum etwas zu tun.
Die Mediationspriorität kommt zurück. Das bedeutet, dass die Aufnahme eines Arbeitsplatzes, auch wenn dieser wenig Perspektiven bietet, wichtiger ist als beispielsweise eine Umschulung. Das Jobcenter kann auch entscheiden, dass die Qualifikation Vorrang hat. Was halten Sie von der für die Union so wichtigen Vermittlungspriorität?
Auch hier muss man jeden Fall einzeln betrachten. Was hilft den Menschen am meisten, eine Chance auf eine Festanstellung zu haben, am besten mit Sozialversicherungsbeiträgen? Ein großer Teil unserer Kunden verfügt über keine Ausbildung oder Qualifikation. Der deutsche Arbeitsmarkt ist auf der Suche nach Arbeitskräften, jedoch überwiegend nach Fachkräften. Wenn wir Menschen zu qualifizierten Fachkräften ausbilden können, ist das für beide Seiten der richtige Weg. Aber auch die Anerkennungsverfahren für Flüchtlinge müssen schneller werden. Wenn ich eine ausländische Fachkraft in einen ungelernten Job vermitteln muss, weil vielleicht eine Anerkennung oder ein Abschluss fehlt, wäre das der falsche Ansatz für unseren Arbeitsmarkt.
Die Qualifizierung unserer Kunden bleibt ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit im Jobcenter. Und der Erfolg gibt uns Recht: Eine soeben vorgestellte Studie des Immigration Policy Lab hat den großen Erfolg des Projekts „Job-Turbo“ hervorgehoben. Es verbindet Qualifizierung, Spracherwerb und Vermittlung durch Arbeit. Es wurden 102.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, darunter 58.000 ukrainische Flüchtlinge und 44.000 Flüchtlinge anderer Herkunft. Der Großteil dieser Arbeitsplätze ist sozialversicherungspflichtig und unbefristet.
Wer ein Kind unter drei Jahren betreuen muss, ist nicht arbeitspflichtig. Nun sollen zumindest Beratung und Teilnahme an Integrationsmaßnahmen verpflichtend werden. Wie oft führt die dreijährige Kinderpause zu einem Verlust der Verbindung zum Arbeitsmarkt?
Hamburg verfügt im bundesweiten Vergleich über eine gute Kinderbetreuung. Genau aus diesem Grund beraten wir unsere Kunden bereits jetzt zur Elternzeit, um Unterbrechungen im Berufsleben zu begrenzen. Wir sind der festen Überzeugung, dass junge Mütter und Väter arbeiten wollen, wenn ihre individuellen Umstände es zulassen. Dies ist auch deshalb zwingend erforderlich, weil der Arbeitsmarkt aufgrund der demografischen Entwicklung alle Beschäftigungspotenziale ausschöpfen muss.
„Bürgergeld ist Geschichte“, sagt Markus Söder. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe darin eher eine Weiterentwicklung, die hoffentlich für eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz sorgen wird. Viele Ansätze im Bürgergeldgesetz waren richtig und wichtig. Und die Grundsicherung für hilfsbedürftige Menschen bleibt bestehen. Das ist verfassungsrechtlich garantiert: Wer mitmacht und seinen Pflichten nachkommt, muss keine Kürzungen befürchten. Meine Kolleginnen und Kollegen unterstützen Menschen mit konkreten Beratungs- und Unterstützungsangeboten und würden sich freuen, wenn dieser Einsatz gesamtgesellschaftlich mehr Anerkennung finden würde.
