Im Libanon explodierten Berichten zufolge gleichzeitig die Kommunikationsgeräte von Hunderten Hisbollah-Mitgliedern. Mindestens neun Menschen kamen dabei ums Leben. Die Gründe für die Explosionen sind noch immer unbekannt – viele vermuten eine israelische Operation.

Einsatzkräfte und Rettungsdienste nach den Explosionen vor einem Krankenhaus in Beirut.
Ein junger Mann steht an einer Supermarktkasse und will ein paar Lebensmittel bezahlen, als plötzlich etwas an seiner Hüfte explodiert. Er bricht zusammen, die Kassiererin und die Umstehenden fliehen in Panik. Videos wie dieses überfluteten am Dienstagnachmittag die sozialen Netzwerke im Libanon.
Kurz darauf wurde klar, dass es sich bei den Detonationen, die sich Medienberichten zufolge im ganzen Land ereigneten, um eine Welle fast gleichzeitiger Explosionen von Pagern handelte, also einfachen Kommunikationsgeräten, die im Libanon fast ausschließlich von Hisbollah-Mitgliedern und -Kämpfern verwendet werden. Am Abend gab das libanesische Gesundheitsministerium bekannt, dass bei der Explosionswelle mindestens neun Menschen getötet und mehr als 2.750 verletzt worden seien.
Unter den Verletzten ist Medienberichten zufolge auch der iranische Botschafter im Libanon. In ganz Beirut waren die Sirenen der Krankenwagen zu hören. Videos zeigten Verletzte mit abgerissenen Händen und Löchern im Oberkörper. Krankenhäuser im ganzen Land riefen die Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden.
BREAKING NEWS über Reuters
Hunderte Mitglieder der Hisbollah wurden am Dienstag schwer verletzt, als die Pager, die sie zur Kommunikation verwenden, explodierten.
Hier ist ein Video einer der Pager-Explosionen. pic.twitter.com/UDepHvkkEe
— Yashar Ali 🐘 (@yashar) 17. September 2024
Monatelang vorbereitet
Einer hochrangigen Quelle aus libanesischen Sicherheitskreisen und einer weiteren Quelle zufolge soll der israelische Geheimdienst Mossad bereits vor Monaten in 5.000 Pagern, die die libanesische Hisbollah aus Taiwan bestellt hatte, eine kleine Menge Sprengstoff platziert haben, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Die Geräte waren im Frühjahr ins Land gebracht worden.
Die hochrangige libanesische Sicherheitsquelle identifizierte ein Foto des Pager-Modells AP924, das wie andere Pager drahtlos Textnachrichten empfängt und anzeigt, aber keine Anrufe tätigen kann. Hisbollah-Kämpfer nutzten Pager, um der israelischen Verfolgung zu entgehen, sagten zwei mit den Operationen der Gruppe vertraute Quellen in diesem Jahr gegenüber Reuters. Die hochrangige libanesische Quelle sagte jedoch, die Geräte seien vom israelischen Geheimdienst „auf Produktionsebene“ modifiziert worden. „Der Mossad hat eine Platine mit explosivem Material in das Gerät eingebaut, das einen Code empfängt. Es ist sehr schwierig, dies mit irgendwelchen Mitteln zu erkennen. Nicht einmal mit einem Gerät oder Scanner“, sagte die Quelle.
Die Quelle sagte, 3.000 der Pager seien explodiert, als ihnen eine verschlüsselte Nachricht gesendet wurde, wodurch gleichzeitig der Sprengstoff aktiviert wurde. Eine andere Sicherheitsquelle teilte Reuters mit, dass bis zu drei Gramm Sprengstoff in den neuen Pagern versteckt waren und von der Hisbollah monatelang „unentdeckt“ geblieben seien. Weder Israel noch Gold Apollo reagierten sofort auf Reuters-Anfragen um einen Kommentar.
Reuters analysierte Bilder zerstörter Pager und zeigte, dass Format und Aufkleber auf der Rückseite mit denen der in Taipeh ansässigen Firma Gold Apollo übereinstimmten. „Dies ist zweifellos die größte Panne bei der Spionageabwehr, die die Hisbollah seit Jahrzehnten erlebt hat“, sagte Jonathan Panikoff, der frühere stellvertretende US-Geheimdienstbeamte für den Nahen Osten.
Die New York Times berichtete unter Berufung auf amerikanische und andere mit der Operation vertraute Beamte außerdem, dass Israel Sprengstoff in den goldenen Apollo-Pagern taiwanischer Produktion versteckt habe, bevor diese in den Libanon importiert wurden. Das Material wurde neben der Batterie platziert, die mit einem Schalter ausgestattet war, der aus der Ferne gezündet werden konnte.
Die Situation zwischen Israel und der Hisbollah eskaliert
Zunächst gab es das Gerücht, dass die Batterien des Pagers durch einen Cyberangriff zur Explosion gebracht worden seien. Verschiedene Beobachter wiesen jedoch darauf hin, dass Batterien kaum solche Explosionen verursachen könnten. Es sei wahrscheinlicher, dass die Pager mit Sprengstoff präpariert und ferngesteuert gezündet worden seien.
Bisher hat sich noch niemand zu einem möglichen Anschlag bekannt. Mehrere libanesische Kommentatoren zeigten jedoch schnell mit dem Finger auf den Feind Israel. Auch der libanesische Informationsminister Ziad Makary verurteilte die Detonation der Pager am späten Nachmittag als „israelische Aggression“.
Die Hisbollah veröffentlichte am Dienstagabend eine Erklärung, in der sie Israel für die Explosionen verantwortlich machte. Inwieweit hochrangige Vertreter der mit dem Iran verbündeten Organisation verletzt wurden, ist nicht bekannt. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah sei jedoch nach Angaben der Miliz nicht betroffen.
Ein Krankenwagen vor einem Krankenhaus in Beirut. Bei Explosionen wurden am Dienstag über 2.000 Menschen verletzt.
Am 8. Oktober hatte die Hisbollah zur Unterstützung der Hamas in Gaza einen Grenzkrieg gegen ihren südlichen Nachbarn begonnen. Bislang war es ihr gelungen, eine Eskalation des Konflikts zu einem großen Krieg zu verhindern. In den letzten Tagen war die Lage jedoch noch einmal eskaliert. Erst gestern hatte das israelische Sicherheitskabinett die Sicherung der Nordgrenze, aus deren Nachbarschaft aufgrund des anhaltenden Hisbollah-Beschusses Zehntausende Israelis fliehen mussten, offiziell zum Kriegsziel erklärt.
Fast zeitgleich soll Israels Inlandsgeheimdienst einen geplanten Bombenanschlag in Tel Aviv vereitelt haben, der sich offenbar gegen einen ehemaligen Angehörigen des Geheimdienstes richtete und israelischen Quellen zufolge von der Hisbollah geplant worden war. Die Explosionswelle könnte eine Reaktion auf diesen gescheiterten Anschlag sein. Die israelischen Behörden äußerten sich bislang allerdings nicht zu den Vorkommnissen im Libanon.
Steht jetzt ein Krieg bevor?
Für die Hisbollah bedeutet die Explosionswelle eine weitere Demütigung, nachdem einer ihrer höchsten Kommandeure, Fuad Shukr, Ende Juli mitten auf dem Beiruter Territorium der Miliz von einer israelischen Drohne getötet worden war. Am Dienstag sprach ein Vertreter der islamistischen Miliz gegenüber Reuters von einem beispiellosen Sicherheitsverstoß. Die extrem geheimnisbewusste Organisation hatte ihre Mitglieder bereits vor Monaten verpflichtet, auf die Nutzung von Mobiltelefonen zu verzichten, da diese von den Israelis geortet werden könnten.
Freiwillige kommen zum Blutspenden im Krankenhaus der Amerikanischen Universität Beirut.
Sollte sich herausstellen, dass Israel tatsächlich hinter der Explosionswelle steckt, könnte dies unabsehbare Folgen haben. Es würde auch die Frage aufwerfen, warum die Israelis ausgerechnet jetzt Hunderte Hisbollah-Mitglieder außer Gefecht setzen. Manche vermuten, dass dies der Beginn einer unmittelbar bevorstehenden israelischen Offensive sein könnte. Im Libanon, wo in den letzten Wochen eine Art trügerische Ruhe herrschte, macht sich erneut die Angst vor einem großen Krieg breit. Die Hisbollah hat bereits erklärt, dass Israel für die Explosionen „seine gerechte Strafe“ erhalten werde.