
Es ist manchmal nicht so einfach zu sagen, woher ein Sieg kam. Noch undurchsichtiger wird die Sache, wenn dieser Sieg nicht irgendein Sieg war, sondern ein echter Meilenstein für einen vergleichsweise kleinen Fußballverein. Nostalgiker erinnern sich in solchen Momenten gerne an den unüberwindlichen Libero aus dem damaligen Oberligaaufsteiger, ohne den nichts anderes möglich gewesen wäre, und Romantiker denken als Erste an jene sentimentalen Momente, in denen Geist und Selbstbild entstanden sind . All dies spielte natürlich eine wichtige Rolle für den ersten Bundesliga-Erfolg von Holstein Kiel. Am Samstag waren sich die Beteiligten nach dem 1:0-Sieg gegen den 1. FC Heidenheim einig, dass der Lärm vor dem Anpfiff etwas zu diesem Sieg beigetragen haben muss.
Und weil der Lärm so groß war, war wohl auch eine Führungsfigur der Kieler Fanszene nicht ganz unbeteiligt an diesem Erfolg. Vor Spielbeginn wurde ihm das Stadionmikrofon anvertraut, damit er eine Art Motivationsrede halten konnte, die sich so mancher im schnuckeligen Holstein-Stadion vielleicht gefragt hätte: Hoppla, kann Kiels Trainer Marcel Rapp das mit der gleichen Leidenschaft machen? die Umkleidekabine? Jedenfalls schien sich der Kapodaster mit jedem gesprochenen Wort mehr in den von Al Pacino gespielten Fußballtrainer aus dem Film „Every Damn Sunday“ zu verwandeln. „Wir haben es uns vielleicht ein bisschen einfach vorgestellt“, dröhnte es aus den Rednern und es war klar, dass die ersten Wochen in der ersten Liga „nicht so gut gelaufen sind“. Doch am Ende, fügte er unter lautem Jubel des Publikums hinzu, müssten die Kieler in dieser Saison insgesamt 34 Spiele absolvieren und somit „34 Feiertage“ genießen: „Niemand hätte jemals damit gerechnet, dass wir überhaupt in der Lage sein würden, in der ersten Liga spielen zu können.“ Spiel!“
Das ist richtig. Mittlerweile hatten sich auch gemeine Skeptiker gefragt, ob Kiel überhaupt eines dieser Erstligaspiele bestreiten würde gewinnen würde. Nicht wegen früherer schlechter Leistungen, nicht wegen des Einsatzes, der für die Kieler in dieser Saison immer riesig war. Und schon gar nicht an mangelndem Einfallsreichtum von Trainer Rapp, der sich für jedes dieser Spiele eine schlüssige Herangehensweise ausgedacht hatte. Doch irgendwie wirkten die Kieler ein wenig überfordert mit dieser Liga. Alles ging etwas zu schnell, vergleichsweise ordentliche Leistungen führten zu teils deutlichen Niederlagen. In der ersten Liga schien es für sie etwas zu schwierig zu laufen, zumal sie unter der Woche nur im DFB-Pokal gegen den Zweitligisten 1. FC Köln verloren hatten. Seit dieser 0:3-Niederlage waren Bedenken hinsichtlich der individuellen Qualität der Küstenstädter deutlich zu hören.
Jetzt gelte es, weiter am „guten Fußball“ zu arbeiten, sagt Trainer Rapp
„Wir haben gehört, dass es sehr laut war“, sagte Kiels Mittelfeldspieler Nicolai Remberg, der zu diesem Zeitpunkt noch in der Kabine war. Ihm gefiel die Ouvertüre des Mannes am Stadionmikrofon. Und auch wenn der ursächliche Zusammenhang einigermaßen gekünstelt ist, schien ein wenig von dieser Energie auf die Kieler übertragen worden zu sein. Anschließend war Remberg beeindruckt von den Vorteilen, die es mit sich bringt, den Gegner zu „verletzen“. Vielleicht war das die Erkenntnis des Tages: Die Kieler waren im besten Sinne des Wortes eklig – und das im Duell mit den ligaweit gefürchteten Heidenheimern, einer Mannschaft, die wie kaum eine andere diese Art von Entschlossenheit pflegte.
Als Holstein gegen Heidenheim angesetzt war, waren die TV-Rechtevermarkter zwar zunächst ins Schwitzen geraten, doch für den Unterhaltungswert dieses Spiels musste sich im Nachhinein niemand schämen. Abseits der knisternden Spannung gab es am Nachmittag aber auch einige Nebengeschichten, die zeigten, woher die Kieler kommen und was sie in jeder Spielminute tun müssen, um ihr großes Saisonziel, den Klassenerhalt, zu erreichen. Da war Verteidiger Patrick Erras, der in den letzten Wochen etwas überfordert wirkte und nun vermelden konnte, dass sein Trikot mit der Nummer 4 bald im Kieler Vereinsmuseum hängen könnte. Dieser Vorschlag wurde ihm jedenfalls nach dem Schlusspfiff gemacht, denn es war Erras, der den entscheidenden Treffer zum ersten Kieler Bundesliga-Sieg beisteuerte: Der lange Verteidiger drehte sich in der 28. Minute in die Luft und köpfte den Ball nach geschickter Vorlage von Max Geschwill ins Heidenheimer Tor.

Hinzu kamen die umtriebigen Magnus Knudsen und Steven Skrzybski, die das Zentrum im Griff hatten und vorne immer clevere Ideen hatten. Und zu guter Letzt war da noch Stürmer Phil Harres, der im Sommer vom Regionalligisten FC 08 Homburg zu den Kieler Profis wechselte und zunächst Regionalligist blieb, da er nur für Holstein II spielte. Harres fiel in der Regionalliga noch durch seine teils überhasteten Aktionen auf, hielt die Heidenheimer Verteidiger aber mit stabiler Physis und vertikalen Läufen auf Trab. „Ich hätte nie gedacht, wie blöd hier jetzt alles ist“, sagte der 22-Jährige mit Blick auf die vergangenen Wochen: „Aber ich hätte nicht gedacht, dass alles so schnell gehen würde.“ Seine ersten zehn Bundesliga-Minuten absolvierte Harres vergangene Woche beim 1:2 gegen Stuttgart und feierte am Samstag nach einer längeren Eingewöhnungsphase sein Debüt in der Kieler Startelf.
Als der Tag bereits durch die Nacht ersetzt worden war, stellten einige Kieler Spieler sogar mutig fest, dass sich dieser Sieg genauso bewegend anfühlte wie der Aufstieg vor einem halben Jahr. So sentimental wollte Holstein-Trainer Marcel Rapp nicht sein. Auch er verspüre „große Freude“, sagte der Trainer, nun gelte es aber, weiter an „inhaltlich gutem Fußball“ zu arbeiten. Aber er wollte seinen Erfolg trotzdem ein wenig feiern – zu Hause mit seiner Familie und einer Coke Zero.