
Morddrohungen per E-Mail und sogar körperliche Angriffe: Wissenschaftler werden immer feindseliger, wie neue Zahlen der Kontaktstelle Scicomm Support zeigen. Besonders betroffen sind die Sozial- und Geisteswissenschaften.
- Hilfseinrichtung verzeichnet mehr als 2.000 Anrufe
- Je aktueller das Thema, desto intensiver die Anfeindungen
- Wissenschaftler sollten zum Schweigen gebracht werden
- Besonders betroffen sind Frauen
„Wir haben es sofort als Morddrohung erkannt“, sagt Jan Claas Behrends von der Viadrina in Frankfurt (Oder) über den Brief, den er Anfang letzter Woche geöffnet hat. In dem Umschlag fand er ein A4-Blatt mit dem Bild einer Pistole darauf. Darunter war der Satz „Geht ins Ohr, bleibt im Kopf“ aufgedruckt. Behrends ging offensiv damit um. Er veröffentlichte den Drohbrief in den sozialen Medien unter der Überschrift „Heute wieder Fanpost“.

Viadrina-Professor erhält Morddrohung wegen Äußerungen zum Ukraine-Krieg
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Jan Claas Behrends ist Historiker und forscht zu den Themen Diktatur und Demokratie mit Schwerpunkt Osteuropa. In Interviews bringt er regelmäßig seine Expertise zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine ein und kritisiert diejenigen in Deutschland und Europa, die eine Kürzung der Hilfen für die Ukraine fordern. Da er diese Position auch in einschlägigen sozialen Medien vertritt, ist er aggressiven Gegenwind gewohnt. Doch die direkte Morddrohung gegen sich selbst hat für ihn auch eine neue Qualität.
Bedroht Wissenschaftler Hilfe suchen
Eine repräsentative Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) ergab im Mai dieses Jahres, dass fast jeder zweite Wissenschaftler in Deutschland Anfeindungen erlebt hat.
Auch die bundesweite Hilfsorganisation Scicomm Support verzeichnet eine Zunahme der Anfeindungen. Sie hat im Juni 2023 ihre Arbeit aufgenommen. In solchen Fällen bietet sie eine Notrufnummer, strategische, psychologische und rechtliche Unterstützung. Seit seiner Einführung wurde der Scicomm Support Help Guide mehr als 2.300 Mal über die Website aufgerufen. In 52 Fällen berät sie weiterhin bedrohte Wissenschaftler und hilft ihnen, die richtige Kommunikationsstrategie zu finden, bietet aber auch psychologische und rechtliche Hilfe an. Fast 500 Wissenschaftskommunikatoren nahmen an präventiven Schulungsworkshops teil. Für die anderen geplanten Veranstaltungen haben sich bereits viele weitere angemeldet.

Fast jeder zweite Wissenschaftler berichtet von Feindseligkeit
Herabwürdigung der Arbeit, Beleidigungen, Drohungen: Laut einer neuen Studie sind Wissenschaftler in Deutschland häufig Angriffen ausgesetzt. Betroffen sind auch Forscher in der Region Berlin-Brandenburg. Von Fabian Grieger und Torsten Mandalkamehr
Frauen werden angegriffen, weil sie Frauen sind
Der Schwerpunkt der Bedrohungsfälle liegt in Berlin und Nordrhein-Westfalen; Am stärksten betroffen sind die Sozial- und Verhaltenswissenschaften sowie die Geisteswissenschaften. 63 Prozent der Beratungsfälle betreffen Frauen.
Frauen werden anders behandelt als Männer, wie Julia Wandt vom Scicomm Support sagt. Die Angriffe seien viel persönlicher: „Es geht um Dinge wie das Aussehen, die Frisur. Und eigentlich um die Degradierung der eigenen Kompetenz, nur weil man eine Frau ist.“ Besonders häufig ist dieses Muster bei jüngeren Wissenschaftlerinnen zu beobachten.
Auch Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erfährt seit Jahren Anfeindungen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine Frau handelt. Man sagt, sie sei eine „gebildete, dumme Nuss“, eine „Hurengeborene“ oder „grüne Scheiße“. „Es geht immer darum, Frauen selbst zu beleidigen“, sagt Kemfert. Und ihre wissenschaftliche Kompetenz wird in Frage gestellt. Männliche Kollegen sind dann automatisch Koryphäen. Frauen sind es nie.“
Wissenschaftler hat jetzt einen Anwalt eingeschaltet
Weil Kemfert im Kampf gegen die Klimakrise eine klare Haltung vertritt, die auf einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe drängt, hat sie bereits Morddrohungen erhalten: „Solche Angriffe, die sich auch gegen Leib und Leben richten, sind Morddrohungen.“ „Morddrohungen, das ist natürlich etwas, das einem etwas antut.“ Das Ziel besteht eindeutig darin, sie einzuschüchtern und daran zu hindern, ihre Erkenntnisse öffentlich zu äußern. Aber, sagt Kemfert: „Für mich ist Gegenwind immer Energie. Ich kämpfe dagegen, weil es um die Sache geht und nicht um mich.“
Längst hat sie aufgehört, sich mit den hasserfüllten Posts über sie in den sozialen Medien auseinanderzusetzen. Die Medienschaffenden um sie herum schauen sich das an, oder auch ihr Anwalt und die Staatsanwaltschaft.
Anders Feindseligkeit in allen möglichen Disziplinen
Scicomm Support stellte fest, dass die Aggression nicht mehr nur prominente Wissenschaftler betrifft und dass sie sich nicht auf geisteswissenschaftliche Themen beschränkt. Seit Corona stehen auch Wissenschaftler, Biologen und Verhaltensforscher im Fokus. „Wir haben wirklich fast alle Disziplinen“, berichtet Julia Wandt, „auch katholische Theologen und Philosophen.“
Auch die Art der Anfeindungen sei unterschiedlich: „Es gibt Briefe, es gibt Anrufe, es wird beim Einkaufen angesprochen. Wir haben auch Wissenschaftler in der Beratung, die im Stadtbild tätlich angegriffen wurden. Da ist leider alles da.“ Wandt rät denen Betroffene sollten sich auf jeden Fall Hilfe von Freunden, Kollegen, der eigenen Fakultät, dem Scicomm-Support und im Zweifelsfall sogar der Polizei holen.

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Die Dunkelziffer ist hoch
Insgesamt reagiert die wissenschaftliche Gemeinschaft noch immer sehr unterschiedlich auf die Anfeindungen. Julia Wandt geht davon aus, dass die Dunkelziffer hoch ist, auch weil es von der Persönlichkeit abhängt, wie Menschen damit umgehen. Viele Betroffene melden sich erst gar nicht. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder vom Wissenschaftszentrum Berlin etwa sagt, er sei in dieser Frage „etwas robuster“. Aber auch er bekam immer mehr „Belästigungen“ und Drohungen, die nicht mehr viel mit sachlichen Argumenten zu tun haben.
Vor gut zehn Jahren war Schröder Staatssekretär im SPD-geführten Arbeitsministerium in Brandenburg. Heute forscht er unter anderem zur AfD und zum Rechtspopulismus. All das macht ihn zum Ziel. „In diesen Milieus haben immer mehr Verschwörungstheorien Einzug gehalten“, analysiert Schröder die Ursachen. Die „Bewegung“ hat immer mehr Sichtbarkeit und damit auch mehr Souveränität erlangt. Sie behauptet, das Land retten zu wollen und sieht Menschen wie ihn daher als Feinde, die sie aufhalten wollen. „Und in diesem Sinne“, so Schröder weiter, „haben sie das Gefühl, etwas Gutes zu tun, indem sie mich provozieren, anprangern, sanktionieren oder gar bedrohen.“
Wissenschaft als Projektionsfläche für Aggression
„Auch wenn es auf der persönlichen Ebene ist“, sagt Julia Wandt vom Scicomm-Support, „sollte man sich immer darüber im Klaren sein, dass man eine Projektionsfläche für etwas ist, was den Angreifern im Moment einfach nicht gefällt oder was sie verhindern wollen.“ .
Auch der Viadrina-Professor Jan Claas Behrends ließ sich von der gegen ihn gerichteten Morddrohung nicht einschüchtern und änderte sein Alltagsverhalten nicht. Sein Fall liegt nun bei der Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen von Amts wegen aufgenommen hat.
Sendung: radio3 vom rbb, 04.12.2024, 07:20 Uhr