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Herdecker Bürgermeister nach Messerattacke vereidigt

Der Ratssaal in Herdecke war am späten Dienstagnachmittag sehr voll. Zur konstituierenden Ratssitzung und der Vereidigung des neu gewählten Oberbürgermeisters der 23.000-Einwohner-Stadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets Ende September waren nicht nur viele Bürger gekommen, sondern auch zahlreiche Reporter und Kamerateams.

Es war der erste öffentliche Auftritt der 57-jährigen Sozialdemokratin seit dem Tag, an dem ihr Name in ganz Deutschland bekannt wurde. Am Morgen des 7. Oktober verbreitete sich schnell die Nachricht, dass der neu gewählte Bürgermeister bei einem Messerangriff lebensgefährlich verletzt worden sei. Weil ein politisches Motiv zunächst nicht auszuschließen war und die Angriffe auf Kommunalpolitiker seit einiger Zeit zunehmen, äußerte gut eine Stunde später sogar Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) auf Gleis X sein Mitgefühl und sein Entsetzen.

Schwerer Fall häuslicher Gewalt

Der Fall Stalzer macht wie unter einem Brennglas deutlich, wie beschleunigt politische Kommunikation im digitalen Zeitalter stattfindet, wie sehr sich politische Akteure unter ständigem Handlungsdruck sehen und wie schmal der Grat für die Medien ist. Innerhalb kürzester Zeit müssen sie entscheiden, was sie melden können und müssen und welche Informationen als geschützte Privatsphäre gelten. Als sich am frühen Nachmittag des 7. Oktober die Hinweise verdichteten, dass es sich bei dem Übergriff um einen schweren Fall häuslicher Gewalt handelte – Stalzers 17-jährige Adoptivtochter steht im Verdacht, ihre Mutter im elterlichen Haus stundenlang bedroht, gequält und ihr neben 13 Messerstichen auch mehrere Kopfverletzungen zugefügt zu haben – war dies eine Nachricht von großem öffentlichem Interesse. Gerade weil klar wurde, dass es sich nicht um ein politisches Attentat handelte.

Aber welche weiteren Details sind relevant? Aus welchen Herkunftsländern stammen die beiden Adoptivkinder des Ehepaars Stalzer (neben der 17-jährigen Tochter haben die Bürgermeisterin und ihr Mann noch einen 15-jährigen Sohn)? Dass sich Kinder und Eltern in letzter Zeit mehrfach gegenseitig wegen häuslicher Gewalt angezeigt haben. Dass die Polizei die Familie vor der Tat mehrmals besucht hat?

Mit fester Stimme legte sie ihren Amtseid ab

Was sich zwei Frauen am Dienstag auf den Zuschauerrängen im Ratssaal zuflüsterten, ging in den vergangenen vier Wochen auch vielen anderen Herdecker Bürgerinnen und Bürgern durch den Kopf: „Kann jemand, der die eigene Familie nicht im Griff hat, eine Stadtverwaltung leiten?“ Iris Stalzer verkündete vom Krankenbett aus, dass sie ihre Stelle auf jeden Fall antreten werde. Letzte Woche gab sie bekannt, dass sie sich dank der guten Pflege bereits körperlich erholt habe. Und am Dienstag wird sie mit fester Stimme ihren Amtseid ablegen. In ihrer ersten Rede als Bürgermeisterin sagte sie dann, dass ihre Verantwortung nun allen Herdeckern gelte. Sie werde sich dieser Aufgabe mit großem, tiefem Respekt und aller Kraft widmen, verspricht Stalzer und dann in Kürze am 7. Oktober. „Dieser Tag war für mich ein Tag des Versagens und der Verletzlichkeit. Dieses Versagen und diese Verletzlichkeit gehören jetzt ebenso zu ihr wie meine Stärke und meine Zuverlässigkeit.“

Ausführlicher äußerte sich die Kommunalpolitikerin Ende letzter Woche in ihrem bislang einzigen Interview, das sie bewusst mit ihrer Heimatzeitung „Westfalenpost“ (WP) und nicht mit einem überregionalen Medium führte. Der Medienrummel sei eine „unglaubliche Belastung“ gewesen, mit der sie in dieser Form nicht gerechnet habe.

Tatsächlich stürmten bereits kurz nach der Tat zahlreiche Reporter und Fotografen zu ihr nach Hause; Es gibt sogar Bilder vom Transport von Stalzer zum Rettungshubschrauber. „Und ich habe auch nicht damit gerechnet, dass meine Kinder, ob verpixelt oder nicht verpixelt, ob von vorne oder von hinten, in einer Situation gezeigt werden, in der noch alles völlig unklar ist.“ Sie fand und findet dies „extrem schwierig“; Schließlich sind ihre Tochter und ihr Sohn minderjährig und genießen besonderen Schutz.

Und sie war damals noch nicht einmal eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens; sie fing gerade erst an, eine zu werden. „Ich bin kein Bundespolitiker oder eine Person, die irgendeine nationale Bedeutung hat. Ich denke, sie hätten etwas rücksichtsvoller sein können. Ich denke auch, dass an der einen oder anderen Stelle leider rechtliche Grenzen überschritten wurden.“

Iris Stalzer berichtete im Interview, dass sie nach dem Anschlag viel Zuspruch erfahren habe. „Aber es gab auch Hass- und Hetzbotschaften, die die Kinder tatsächlich mehr trafen als mich, wo es dann in eine rassistische Ecke kippte, weil – aus welchen Gründen auch immer – jemand die Herkunftsländer der Kinder veröffentlicht hatte.“ Im Allgemeinen war sie überrascht, wie Informationen, die eigentlich nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten, letztendlich an die Öffentlichkeit gelangten.

Als selbständige Anwältin hatte sie noch nie einen „Nine-to-Five“-Job; Sie mache seit 20 Jahren Kommunalpolitik, sagte Stalzer und formulierte einen „dringenden Appell“: Wenn sich nur Menschen mit perfekten Familien engagieren dürften, würde das die Gesellschaft verzerren. Für einige mag das Leben ein Ponyhof sein, für die meisten jedoch nicht. „Und jetzt, wo ich damit in die Öffentlichkeit gerückt bin, möchte ich allen, die es betrifft, ganz klar sagen: Versteckt euch nicht, schämt euch nicht.“ Es ist wichtig zu schauen, zu handeln und nicht nur auf diejenigen zu schauen, die im Licht stehen.“

Sie hat die volle Unterstützung ihres Mannes und ihrer Partei. Und: „Nichts haut mich so schnell um.“ Diese Botschaft fügte Stalzer in ihrer Antrittsrede am Dienstag hinzu. Ja, sie kann die Herausforderungen des Büros meistern. „Denn es kommt nicht darauf an, immer alles unter Kontrolle zu haben. Denn es kommt nicht darauf an, allmächtig zu sein, sondern vielmehr darum, den inneren Kompass und die Orientierung nicht zu verlieren, auch wenn die eigene kleine Welt auseinanderbricht.“

Als Bürgermeisterin wird Iris Stalzer nun einen Apparat mit rund 380 Mitarbeitern leiten. Gleichzeitig muss sie sich in ihrer Rolle als Mutter mit „ihrem“ Jugendamt auseinandersetzen, in dessen Obhut sich ihre Tochter und ihr Sohn derzeit befinden. Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden organisatorische Vorkehrungen getroffen, um sicherzustellen, dass kein Interessenkonflikt entsteht. Ob Meldungen, Stalzer und ihr Mann hätten beschlossen, die Kinder nicht mehr bei sich aufzunehmen, blieben am Dienstag unklar. Der Fall ist jedenfalls noch nicht abgeschlossen, da in dieser Angelegenheit bald eine Gerichtsverhandlung stattfinden wird.

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