Stefan Kretzschmar spricht erstmals über die emotional aufwühlende Zeit nach seinem Rauswurf beim Handballmeister Füchse Berlin. Im Interview beschreibt er, wie er Stabilität gefunden hat. Allerdings sieht er die Tatsache, dass es nur Verlierer gab, differenzierter.
Es war ihr letzter gemeinsamer Auftritt auf einer großen Bühne. Bei der „Sport Bild“-Auszeichnung Ende August in der Hamburger Fischauktionshalle wurden Geschäftsführer Bob Hanning, Sportdirektor Stefan Kretzschmar, Trainer Jaron Siewert sowie die Spieler Mathias Gidsel und Nils Lichtlein für den ersten Meistertitel der Füchse Berlin geehrt. Zehn Tage später der große Knall: Hanning trennte sich mit sofortiger Wirkung von Kretzschmar und Siewert. Nun spricht der 52-jährige Kretzschmar erstmals über diese emotionale Zeit.
Fragen: Herr Kretzschmar, was war das Besondere an den Füchsen Berlin in der vergangenen Saison?
Stefan Kretzschmar: Ich glaube, dass es so einen deutschen Meister noch nie gegeben hat. Dass es das Team in dieser Konstellation geschafft hat, war eine große Überraschung. Im wichtigen Endspiel bei den Rhein-Neckar Löwen waren sieben der 14 Spieler Absolventen unserer vereinseigenen Akademie. Das ist in letzter Zeit keinem Team so gelungen. Für mich ist die Deutsche Meisterschaft der wichtigste Titel im Handball, weil er am schwierigsten zu erreichen ist. Dass uns das mit einem Mix aus eigenem Nachwuchs und etablierten Stars gelungen ist, ist eine kleine Sensation. Unser Kader ist darauf ausgelegt, maximale Erfolge zu erzielen und jungen Talenten eine Chance zu geben. Dieser Drahtseilakt spielt bei keinem anderen europäischen Spitzenteam eine so große Rolle wie bei uns.
Fragen: Sie sagten, Ihr Team sei unterschätzt worden. Was meinten Sie damit?
Kretzschmar: Bei den Füchsen hieß es immer: Das ist eine Spitzenmannschaft, aber… Wir sind nicht der SC Magdeburg, bei dem es kein „Aber“ gibt. Wir hatten immer Bedenken: Die Foxes sind ein Spitzenteam, aber der Kader ist nicht breit genug, aber können die jungen Spieler dieses Niveau immer erreichen, sind aber auf Mathias Gidsel angewiesen. Es war immer dieses „aber“. Deshalb waren wir nie die großen Favoriten und die wenigsten Leute hatten uns ganz oben auf ihrer Liste.
Fragen: Hätte dir nach der 37:38-Niederlage in Flensburg am 16. Dezember 2024 jemand auf die Schulter geklopft und gesagt: „Kretzsche, sei nicht traurig, ab jetzt verlierst du in dieser Saison kein Spiel mehr!“ Wie hätten Sie reagiert?
Kretzschmar: Das hätte ich nicht geglaubt. Einfach wegen der unglaublichen Stärke der Bundesliga. Das ist brutal. Das darf man mental nicht an sich heranlassen. Auch wenn es abgedroschen klingt, uns ging es eigentlich immer nur um das nächste Spiel.
Fragen: Am vergangenen Donnerstag gewannen die Foxes relativ dramatisch ihr viertes Gruppenspiel gegen Bukarest. Sie bleiben in der Champions League ungeschlagen. Hast du das Spiel im Fernsehen gesehen?
Kretzschmar: Ja. Klar, natürlich. Ich schaue immer noch mit vielen Emotionen zu, weil ich den Menschen immer noch sehr verbunden bin. Nur weil ich nicht mehr dort arbeite, heißt das nicht, dass sich meine Gefühle geändert haben. In den letzten fünf Jahren hat sich zu den Menschen dort eine sehr enge Bindung entwickelt. Ich finde die Füchse Berlin immer noch cool! Das ist ein toller Club und eine Top-Adresse. Es ist nicht einfach, Emotionen zu kanalisieren, wenn man nicht mehr da ist. Ich wünsche den Jungs nur das Beste. Ich habe viele von ihnen hierher gebracht und möchte, dass es ihnen gut geht.
Fragen: Auf dem Siegerfoto des „Sport Bild“-Preises sind Sie gemeinsam mit Geschäftsführer Bob Hanning, Welthandballspieler Mathias Gidsel, U21-Weltmeister Nils Lichtlein und Trainer Jaron Siewert zu sehen. Hätten Sie es in diesem Moment für möglich gehalten, dass es das letzte Mal sein würde, dass Sie alle zusammen auf einem Foto zu sehen sind?
Kretzschmar: Nein. Überhaupt nicht. Dies war damals weder klar noch vorhersehbar. Ich war schon davon ausgegangen, dass wir diese Saison zumindest gemeinsam zu Ende bringen würden.
Fragen: Eine Woche später wurden Sie jedoch freigelassen. Anschließend gab es bundesweit eine sehr intensive Resonanz für den Handball. Wie haben Sie es wahrgenommen?
Kretzschmar: Nicht einmal an meinem 50. Geburtstag habe ich so viele Anrufe und WhatsApps erhalten. Auch von Kollegen, also Managern und Trainern aus der Handballbranche. Viele Leute wollten wissen, wie es dazu kam und wie es mir ging.
Fragen: Was überwiegt derzeit: die Enttäuschung über die Trennung oder die Freude, mehr Zeit für sich und die Familie zu haben?
Kretzschmar: Das ist nicht einfach zu beantworten. Diese fünf Jahre bei den Foxes waren eine wirklich intensive Reise. Aus der damaligen Ausgangslage ergab sich die Vorgabe, den Verein zu übernehmen und ihn zu einem der besten Vereine Europas zu machen (6. Platz, die Redaktion) eine Herausforderung. Die ursprüngliche Vereinbarung über meinen Zeitaufwand hatte nichts mehr mit dem zu tun, was ich tatsächlich in die Füchse investiert habe. Ich habe mich immer mehr mit dem Verein identifiziert, vor allem weil er immer mehr zu meiner Mannschaft geworden ist, weil ich die Spieler mitgebracht habe. Der Abschied war nicht mein Wunsch. Da setzt man nicht einfach ein Häkchen. Du sitzt die erste Woche zu Hause und musst dich damit auseinandersetzen.
Fragen: Wie stehen Sie jetzt zu dieser Entscheidung?
Kretzschmar: Mittlerweile habe ich mich etwas distanziert, aber natürlich schaue ich immer noch emotional auf die Füchse. Das wird wohl auch nach unserer gemeinsamen Geschichte immer so bleiben. Diese Meisterschaft wird uns für immer verbinden. Aber es ist okay. Mir ist klar, dass es für jeden so ist. Für die Spieler, für den Verein, für die Vereinsführung. Und auch für mich. Am Ende ist jeder irgendwie ersetzbar. Es sollte so sein, dass niemand größer ist als der Verein.
Fragen: Dennoch hat man das Gefühl, dass es jetzt nur noch Verlierer gibt.
Kretzschmar: Da es glücklicherweise keine Schlammschlacht gab und sich alle sehr professionell verhalten haben, sehe ich das etwas anders. Die erste Woche nach dem Doppelsplit war für Bob etwas hart, aber jetzt – nach sieben Siegen in Folge – hat sich die Lage beruhigt und die Dinge stehen wieder auf der Tagesordnung. Unpopuläre Entscheidungen gehören manchmal dazu, Verantwortung zu übernehmen.
Fragen: Haben Sie nach dem Füchse-Abgang jemals Tränen vergossen?
Kretzschmar: Nein. Das ist eigentlich nie passiert. Natürlich war ich zunächst wütend, enttäuscht und hatte wenig Verständnis für diese Entscheidung mit sofortiger Wirkung. Aber es war nicht so, dass ich meine emotionale Unterstützung verloren hätte.
Fragen: Wer hat Sie unterstützt?
Kretzschmar: Die wichtigste Person an meiner Seite war und ist natürlich meine Frau. Sie hat alles aufgesaugt, was da war. Sie ist die Person, mit der ich jeden Tag alles bespreche. Dann bin ich für eine Woche nach Mallorca geflogen, um etwas körperliche Distanz zu gewinnen. Ich habe ein Ferienhaus gemietet und eine Woche nur für mich alleine verbracht. In dieser Zeit habe ich viel mit meinen Kindern telefoniert, die sich Sorgen machten und auch für mich da waren. Dann kamen meine „Party Sans“-Leute, also meine Golffreunde, für ein paar Tage vorbei und brachten mich auf andere Ideen. Das war wichtig und schön.
Fragen: Du arbeitest weiterhin als Experte beim Streamingsender Dyn (gehört wie WELT zur Axel Springer SE, der Redaktion). Bisher waren Fox-Spiele aus Voreingenommenheit für Sie tabu. Wird sich das in Zukunft ändern?
Kretzschmar: Im Moment würde ich diesen Gedanken beiseite legen. Aber schauen wir mal, was in der Rückrunde der Bundesliga passiert. Dafür brauche ich eine emotionale Distanz. Ich möchte neutral bewerten können. Und dafür brauche ich unbedingt das Kalenderjahr 2025.
Fragen: Was planen Sie für die Zeit nach dem 30. Juni 2026, wenn Ihr Vertrag in Berlin ausläuft?
Kretzschmar: Im Moment stürze ich mich in die Expertenarbeit bei Dyn und den Podcast mit Schmiso (Kommentator Florian Schmidt-Sommerfeld, die Redaktion). Ansonsten schwirrt mir im Moment der Kopf. Es gibt viele Ideen, auch Wünsche, über die ich nachdenke. Aber es gibt jetzt keine Eile. Magdeburg war für mich als Sportdirektor emotional, ebenso wie Leipzig und zuletzt die Füchse. Es muss also etwas sein, das ich gut finde und das ich hundertprozentig unterstütze. Ob es ein anderer Verein oder etwas anderes wird, kann ich im Moment noch nicht sagen. Ich könnte mir vorstellen, mich bis zu meinem 60. Geburtstag einem weiteren langfristigen Projekt zu widmen. Ich habe die Kapazität und viel Energie.
Fragen: Wie wäre es mit einem Wechsel in die Politik?
Kretzschmar: Nein. Absolut nicht. Leider ist Sport oft Politik. Ich mag keine Taktiken. Dafür bin ich viel zu direkt. Ich kenne meine Stärken und möchte im Handball bleiben. In meinem Sport bin ich noch weit davon entfernt, wo ich sein möchte.
Fragen: Das heißt?
Kretzschmar: Unsere Liga und der Sport im Allgemeinen haben noch viel Potenzial. Ich fürchte um den Status des Sports und glaube, dass mehr nötig ist. Ich möchte mehr Strategie einbringen und Projekte initiieren, um den Handball nachhaltig auf ein anderes Level zu heben. Wir müssen uns weiterentwickeln, wenn wir auch in 20 Jahren noch relevant sein wollen. Mit Ideen, wie sich der Handball verändern muss.
Fragen: Der Vertrag von HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann endet 2028. Sind Sie bereit für seine Nachfolge?
Kretzschmar: Frank Bohmann macht einen sehr guten Job. Ich respektiere ihn als Person und seine Arbeit sehr. Wir vermarkten das Produkt, das wir derzeit haben, sehr gut. Aber wenn wir den Wandel der Digitalisierung nicht schaffen, wenn wir die Unterhaltungsfaktoren der jungen Generation weiterhin ignorieren, dann werden wir in ein paar Jahren ein Problem haben. Daher ist es meiner Meinung nach äußerst wichtig, unser Produkt besser zu präsentieren und an die jüngere Generation anzupassen. Soweit ich weiß, haben wir zum Beispiel in unserem Sport keinen einzigen Streamer auf Twitch. Wir müssen auch mehr Lifestyle in unseren Sport bringen. Darüber hinaus müssen auch die Spieler selbst mehr Verantwortung übernehmen. Mehr soziale Medien, eigene Podcasts und allgemeine Formate. Auch sie müssen Verantwortung übernehmen und erkennen, dass der Erfolg des Sports auch von ihrem Engagement abhängt. Aber ich weise schon seit Jahren darauf hin.