taz | Khaled Agha hat eine starke Stimme. „Wir fordern keinen Luxus“, sagt er in ein Mikrofon vor dem Eingang des S-Bahnhofs Harburg-Rathaus im Süden Hamburgs und macht eine Pause. „Wir wollen nur Würde.“ Sie wollen nur Würde, sagt Agha, die seit acht Monaten mit rund 450 anderen in einem ehemaligen Großmarkt in Harburg lebt, einer als Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge genutzten Unterkunft in der Schlachthofstraße.
An diesem Sonntagnachmittag hören ihm rund hundert Menschen zu. Einige kamen aus der Hamburger Innenstadt, andere wie Agha aus der Unterkunft. Die Bewohner organisierten die Demonstration unter dem Motto „Gemeinsam Widerstand leisten: Lager abschaffen“ gemeinsam mit antirassistischen Initiativen selbst. Vor einer Woche warf ein leitender Mitarbeiter des Sicherheitsunternehmens Elb Security über Nacht fünfzehn Bewohner raus und verbot ihnen den Zutritt zum Gebäude. Die Männer verbrachten die Nacht auf dem Bürgersteig.
Zuvor hatten rund 200 Bewohner vor der Unterkunft gegen die menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Lager protestiert, darunter auch die später rausgeworfenen Menschen. Die taz und lokale Medien berichteten.
Der Mitarbeiter, dem die Bewohner seit Monaten Willkür und Rassismus vorwerfen, arbeitet nun nicht mehr in der Unterkunft. Er sei am Montag nach dem Vorfall überstellt worden, teilte die Fördergesellschaft Fördern & Wohnen (F&W) auf taz-Anfrage mit. F&W schrieb kurz nach dem Vorfall, es gebe keine Anzeichen für ein Fehlverhalten seinerseits.
Menschen
Die Zahl der in Hamburg ankommenden Asylbewerber ist leicht zurückgegangen. Im September kamen rund 540 Menschen an, mehr als ein Drittel weniger als im September vor einem Jahr. Während im Jahr 2022 fast 24.000 Menschen ankamen und untergebracht werden mussten, sind es mittlerweile rund 5.000 Neuankömmlinge.
In Hamburg leben rund 44.000 Flüchtlinge in öffentlichen Unterkünften. Davon sind 27.000 Asylbewerber. Davon leben 2.800 Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen. Insgesamt verfügt Hamburg derzeit über mehr als 52.000 Übernachtungsplätze, viele davon sind erst seit 2015 entstanden. Vor zehn Jahren waren es nur 32.504.
Die meisten Flüchtlinge
Wohnen Sie in der Überseering-Unterkunft im Norden der Stadt mit 1.500 Plätzen, in einem ehemaligen Postgebäude.
Wie konnte es nachts zu Ausgangssperren kommen?
Als Anstalt des öffentlichen Rechts ist F&W ein kommunales Unternehmen und für die Unterbringung von Flüchtlingen in ganz Hamburg zuständig. Das Deutsche Rote Kreuz betreibt im Auftrag von F&W den Standort an der Schlachthofstraße – eine Zusammenarbeit, die in Hamburg wie vielerorts gängige Praxis ist, da 2015 viel mehr Menschen in Hamburg ankamen, als die Stadt aufnehmen konnte.
Als Sponsor ist F&W nicht wie das DRK permanent vor Ort, trägt aber die Verantwortung, wenn es letzte Woche zu so etwas wie den nächtlichen Ausgangssperren kam. Es dauerte einige Tage und mehrere Nachfragen, bis F&W gegenüber der taz bestätigte, dass Menschen nachts aus der Unterkunft vertrieben worden seien. „Künftig werden Wegweisungen für maximal zwei Stunden am Stück ausgesprochen“, schreibt eine Sprecherin auf die Frage, welche Konsequenzen aus dem Vorfall gezogen werden.
Wie es aber dazu kommen konnte, dass fünfzehn Menschen draußen übernachten mussten, bleibt abzuwarten. Es müsse durch „eine unabhängige und transparente Untersuchung unter Beteiligung neutraler Organisationen – nicht nur der Lagerverwaltung selbst“ geklärt werden, fordern die Bewohner im Aufruf zur Demo.
Ahmad Alhussein ist einer der fünfzehn Bewohner, die über Nacht vertrieben wurden. Er habe eine schlechte Woche gehabt, sagte er der taz zu Beginn der Demonstration am Sonntag. Nach der Nacht auf der Straße wurde er krank: „Ich konnte die ganze Woche nicht zur Schule gehen.“ Alhussein läuft durch Harburg zur Unterkunft. Als er am Tor ankam, hielt er ein Transparent hoch, auf dem er Bewegungsfreiheit als Menschenrecht forderte.
Bis vor Kurzem lebten Flüchtlinge auch in Zelten
So zu demonstrieren wie er, ist keine Selbstverständlichkeit. Viele Bewohner hätten sich nach dem, was letzte Woche passiert sei, nicht getraut, zu kommen, sagt Alhussein. Sie haben Angst, dass sie durch die Teilnahme an der Demo gestresst werden könnten.
Die Zustände in der Einrichtung stehen seit Jahren in der Kritik. Bei der Unterkunft handelt es sich eigentlich um einen Notfallstandort. Dennoch ist es seit 2022, als viele Menschen aus der Ukraine in Hamburg ankamen, kontinuierlich in Betrieb. Einige Menschen leben seit mehr als zwei Jahren hier.
Laut Khaled Agha sprach am Sonntag eine Bewohnerin, die anonym bleiben wollte, über ihre Erfahrungen in der Unterkunft. „Nach sieben Monaten hatte ich einen Nervenzusammenbruch“, sagt sie. Als sie ihr nach ihrer Rede das Mikrofon überreicht, fängt sie an zu weinen.
Vor einem halben Jahr lebten rund 1.200 Menschen in der Schlachthofstraße. Mittlerweile sind es weniger als halb so viele. Bis Ende September lebten Menschen in Zelten für acht Personen auf dem Parkplatz. Nun wohnen alle verbleibenden Bewohner in einer Halle, in sogenannten „Abteilen“. Dabei handelt es sich um durch dünne Pappwände getrennte und nach oben offene Räume. Die Toiletten und Duschen befinden sich draußen in überdachten, teilweise unbeheizten Containern. Besonders im Winter und vor allem für Frauen und Kinder ist das schwer zu ertragen.
Die Bewohner traten erfolglos in einen Hungerstreik
Das wissen auch die für die Erstaufnahme zuständige Innenbehörde, die für die spätere Unterbringung zuständige Sozialbehörde und die Förder- und Wohnungsvermittlung. „Allen Beteiligten“ sei bewusst, dass die Bewohner an den Einsatzorten „einer herausfordernden Situation ausgesetzt“ seien. „Wir möchten solche Standorte schnellstmöglich schließen“, sagt F&W-Sprecherin Susanne Schwendtke zur taz. „Aber das ist im Moment nicht möglich, weil es einfach nicht genug Plätze gibt.“
Das argumentieren auch die Sozial- und Innenbehörden. Obwohl die Zahl der in Hamburg ankommenden Asylbewerber rückläufig sei, sei das System „immer noch sehr ausgelastet“ und liege bei 95,8 Prozent (Stand 17. Oktober). „Daher sind die zuständigen Behörden weiterhin auf Notfallstandorte wie die Schlachthofstraße angewiesen“, schreibt der Sprecher der Innenbehörde. Neben der Schlachthofstraße wird in Hamburg nur noch ein weiterer Notfallstandort weiterhin als Unterkunft genutzt, und zwar in der Stengelestraße 38 mit derzeit 69 Bewohnern.
Sobald die Lage der öffentlichen Unterkünfte in Hamburg dies zulässt, werden die Unterkünfte in der Schlachthofstraße „in der Belegung reduziert oder künftig geräumt“. Die Behörden wollen die Unterkünfte nicht ganz aufgeben; es solle „weiterhin als Reservestandort erhalten bleiben“.
Unterdessen protestieren die Bewohner weiterhin gegen die unhaltbaren Zustände – wie schon seit Jahren. Im Februar traten einige von ihnen in einen Hungerstreik. An der Situation hat sich nichts geändert. Sie gaben den Hungerstreik auf.
Khaled Agha war unter ihnen. „Es ist ein Ort, an dem Menschen ihre Gesundheit und ihre Träume verlieren“, sagt Agha am Sonntag bei der Demo in Harburg. An diesem Ort verlieren die Menschen nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihre Träume. Eigentlich, sagt Agha zur taz vor seiner Rede auf der Demo, hätten sie alle keine Hoffnung mehr. „Aber wir müssen Hoffnung haben.“