Wäre 14 Uhr für das Vorstellungsgespräch in Ordnung? „Nein“, sagte das Rapper-Management am Ende der anderen Leitung lachend, „der Gefangene schläft bis 17 Uhr.“ Das war etwa im Jahr 2012. Aykut Anhan, so der bürgerliche Name des Rapper-Haftbefehls, war nach dem Nummer-eins-Hit „Chabos weiß, wer der Babo ist“ wohl der gefragteste Rapper Deutschlands. Sogar „Der Spiegel“ zeigte sich begeistert, widmete dem Musiker aus Offenbach bei Frankfurt ein mehrseitiges Porträt und schrieb, der Rapper „macht polyglottes Geschwätz zur Kunstform“.
Bis 17 Uhr schlafen, also die ganze Nacht durchhalten – was sich über den Rapper in der schockierenden Netflix-Dokumentation „Babo – The Arrest Warrant Story“ abzeichnete, war vielleicht schon vor mehr als zehn Jahren erkennbar. Nämlich, dass er so ziemlich am Ende ist.
Trinken Sie nach einer Überdosis weiterhin Cola
Schon vorher gab es Hinweise: Konzertabsagen, als er betrunken war, Bilder, auf denen er aufgebläht wirkte, und schließlich ein Tourabbruch im Jahr 2022. Doch was der Film des Stuttgarter Regisseurs Sinan Sevinç zeigt, ist ein ganz anderer Abgrund. Der Zuschauer wird Zeuge eines manisch-wahnhaften Künstlers, der nach einem Aufenthalt in der Notaufnahme wegen einer Überdosis erzählt, wie er am nächsten Tag einfach weiter kokaierte und meinte, 10 Gramm am Tag seien normal. Auch enge Weggefährten kommen zu Wort und erzählen unglaubliche Geschichten, allen voran seine Frau Nina Anhan, die unter anderem sagt: „Ich liebe den Aykut, aber nicht den Haftbefehl.“
Zuletzt wohnten die Anhans der Dokumentation zufolge im Raum Stuttgart, um zumindest den Haftbefehl von der Frankfurter Straße fernzuhalten. Und der Rapper sorgte immer wieder für Schlagzeilen, als er im Hexenkessel auftrat. Menschen, die in Stuttgart mit ihm interagierten, zeichnen ein ähnlich ambivalentes Bild wie seine Frau, und der Eindruck, den er hinterließ, hängt stark davon ab, ob sie mit Aykut Anhan, dem Menschen, oder mit Arrest Warrant, der Kunstfigur, interagierten.
Noah Gürak von der Bar La Concha am Wilhelmsplatz erinnert sich an den Rapper, der vor ein paar Jahren auf seiner Terrasse saß: „Mein erster Eindruck war: Wow, das ist riesig.“ Laut Online-Quellen ist Anhan tatsächlich etwa zwei Meter lang. „Aber er machte tatsächlich einen wirklich netten und ruhigen Eindruck und war höflich“, sagt Gürak über den Gangster-Rapper. Er gab auch gute Trinkgelder und bezahlte den gesamten Tisch.
Allerdings habe Anhan auch „ein bisschen wie ein Pilot geredet“, sagt Gürak – er habe also vielleicht nicht nur Longdrinks getrunken, sondern vielleicht auch noch etwas anderes auf der Nase gehabt. Dem in der Dokumentation thematisierten übermäßigen Drogenkonsum zufolge ist dies zumindest nicht ganz unwahrscheinlich.
Gespräche in der Alaturka-Küche
Yüksel Dogan, Gründer und bis 2024 Mitinhaber des legendären Dönerladens Alaturka in der Olgastraße in Stuttgart, kennt Anhan viel besser. Auch auf Instagram hatte der Rapper für den Döner geworben, der immer wieder als der beste Deutschlands ausgezeichnet wurde. „Wir saßen ab und zu zusammen“, erinnert sich Dogan an seinen prominenten Gast, für den es völlig normal war, irgendwann in die Küche zu kommen.
Aykut Anhan nannte ihn daraufhin „Onkel“, weil die Mütter der beiden aus derselben Gegend in der Türkei stammten. Bei diesen Küchengesprächen flogen manchmal die Funken, wenn es philosophisch wurde. „Ich sagte: Es geht um Ehrlichkeit im Leben, Aykut sagte, Geld regiert die Welt“, sagte Dogan. Er habe mit einem Haftbefehl „schöne Dinge erlebt“, es sei oft lustig gewesen, aber auch: „Er war nicht normal.“
Dogan erzählt weitere Geschichten, die er angeblich mit Anhan erlebt hat – so wild, dass sie neben all dem Wahnsinn durchaus in die Dokumentation hätten einfließen können. Er wusste auch von den Drogen. Da er die 92 Minuten aber selbst nicht gesehen hat, möchte Dogan Zeit zum Nachdenken, ob er wirklich mehr an die Öffentlichkeit bringen will, denn grundsätzlich mag er „den Jungen“ sehr.
Das Einzige, was ihn damals wirklich ärgerte, war, dass Dogan nach dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Jahr 2023 mit Alaturka Spenden für Erdbebenopfer sammelte. Damit der Döner-Laden voll ist, kündigte Dogan in den sozialen Netzwerken prominente Unterstützung an, darunter Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) und Rapper-Haftbefehl. Und während Nopper am Tag der Aktion tatsächlich am Dönerspieß stand und mithalf, fehlte jede Spur von einem Haftbefehl.
Maximale Belastung für die Ehe
Auch die Nebendarsteller der Dokumentation können von solchen Erlebnissen ein Lied singen. Konzertveranstalter berichten von Erschütterungen, etwa weil Haftbefehle einfach nicht zu Auftritten erschienen, Musikproduzenten erzählen, wie der Rapper Termine im Tonstudio schwänzen soll.
Es ist schwer vorstellbar, dass vieles von „Babo“ ausgeschmückt ist. Auch wenn manche Dinge – etwa der explizite Drogenkonsum – nie direkt gezeigt werden, offenbart Aykut Anhan den Filmemachern tiefe Einblicke in seine Abwärtsspirale und präsentiert sich als von psychischen Problemen und Sucht gezeichneter Familienvater, dessen Ehe durch seine Misserfolge auf die größte Belastungsprobe gestellt wird.
Optisch kaum erkennbar
Regisseur Sinan Sevinç, der Anhan drei Jahre lang begleitete, sprach mit unserer Zeitung über den herausfordernden Dreh. Viele Fotos entstanden auch in der Region Stuttgart, insbesondere im hübschen Zuhause der Anhans. Zumindest in den dort stattfindenden Szenen scheint die Welt des Haftbefehls einigermaßen in Ordnung zu sein. Dies war bereits im Jahr 2022 der Fall, als die Familie unsere Zeitung für eine Homestory erhielt. Design und Kinderhandwerk, viel Travertinstein sowie die kultigen Tripp Trapp-Hochstühle für die Kleinen am Esstisch. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier jemand lebt, der tagelang im Drogenstrudel verschwindet und dann plötzlich wieder auftaucht, wie es im Film dargestellt wird.
Es ist nicht bekannt, wo sich die Anhans derzeit aufhalten. Das Ende der Dokumentation zeigt Aykut Anhan im Urlaub. Mit der dortigen schlaksigen, hyperaggressiven Kunstfigur hat er nicht mehr viel gemeinsam. Der 39-Jährige hat stark zugenommen und sein Gesicht sieht völlig anders aus, nachdem Ärzte einen großen Teil seiner Nase entfernen mussten. Aber er scheint sich viel mehr Zeit für seine beiden Kinder zu nehmen, kauft ihnen Spielzeug und spielt mit ihnen im Pool. Wenn er heute die Königstraße in Stuttgart entlanglaufen würde, wäre es fraglich, ob ihn viele Menschen überhaupt erkennen würden.
