Nachrichtenportal Deutschland

Haftbefehl-Doku: Warum Schüler die Texte des Rappers im Unterricht haben wollen

Ein Thema dominiert auf Schulhöfen, in Schulen und in den sozialen Medien: die neue Netflix-Doku über den Offenbacher Rapper Haftbefehl. „Babo – The Arrest Warrant Story“ ist mit mehr als vier Millionen Aufrufen die Nummer eins der Charts im deutschsprachigen Raum. Darin erzählt der 39-jährige Sohn eines Kurden und einer Türkin, Aykut Anhan, alias Haftbefehlshaber, über seine Kindheit, den Selbstmord seines Vaters und seinen Drogenexzess. Es ist ein kometenhafter Aufstieg, eine beispiellose Selbstzerstörung – und ein erschreckendes Beispiel.

„Die Dokumentation hat einen Nerv getroffen“, sagt Offenbachs stellvertretende Stadtschulsprecherin Arig Ali. In den Pausen wird darüber heftig diskutiert. Es würden Szenen und Elemente hervorgehoben, mit denen sich viele identifizieren könnten. Aber die Zeit reicht nicht. „Warum besprechen wir solche Dinge in den fünfminütigen Pausen und nicht im Unterricht?“ fragt die 18-jährige Studentin.

„Da ist ein Mensch, der mit seinen Dämonen kämpft.“

Das Büro des städtischen Schulamtes in Offenbach ist spärlich möbliert. Neben Ali sitzt der Stadtschulsprecher Luca Albert Dobrita auf einem grauen Sofa. Laut der 17-jährigen Auszubildenden habe die Dokumentation vielen jungen Menschen die Augen geöffnet, weil sie so ehrlich, nah und schonungslos sei. Eine Szene sticht heraus: Die Produzenten lassen Aykut Anhan mit der Kamera in seinem Hotelzimmer zurück. „Es ist ein Mensch, der mit seinen Dämonen kämpft. Es ist der Hilferuf eines Menschen, der allein gelassen wurde“, sagt Ali. „Der Dokumentarfilm ist die beste Präventionsarbeit gegen Drogen, die es je gab, denn man sieht zu, wie ein Idol scheitert“, sagt Dobrita.

Klare Forderungen: Luca Albert Dobrita und Arig Ali wollen, dass das Leben des Haftbefehls-Rappers in der Schule zum Thema wird.Ben Kilb

Deshalb forderte der Schülerrat der Stadt Offenbach letzte Woche: „Haftbefehle gehören in die Schulen!“ Die Anregung: sich mit der Arbeit und dem Leben des Haftbefehls auseinanderzusetzen – insbesondere in den Fächern Musik, Politik und Deutsch. Seitdem, sagt Dobrita, klingele sein Telefon ununterbrochen. Viele Jugendliche sind mit Haftbefehlen leichter zu erreichen als mit Büchern.

Das Hessische Kultusministerium lehnt den Vorschlag ab

Doch das Hessische Kultusministerium sieht das anders. „Weder die Texte des Rappers noch sein kontroverses Auftreten in der Öffentlichkeit stehen im Einklang mit dem Bildungs- und Bildungsauftrag, den Schulen erfüllen“, hieß es von der FAZ auf Nachfrage. Der Grund: Seine Texte sind teils antisemitisch, sexistisch, gewaltverherrlichend und Rauschmittel werden verherrlicht. Haftbefehl ist aufgrund seiner „Neigung zur Kriminalität“ kein Vorbild.

Dobrita wiederum nennt die Haltung des Kulturministeriums „realitätsfern“; Ihre Strategie ist „idiotische Symbolpolitik“. Ali bemerkt: „Diese Antwort ist frustrierend. Es ist wieder einmal ein Punkt, an dem junge Menschen nicht gehört werden. Deshalb wenden sich junge Menschen von der Politik ab. Das führt zu Desillusionierung gegenüber der Politik.“ Das Ministerium widerspricht erneut: „Im Gegenteil stellen wir ein Interesse junger Menschen an gesellschaftlich relevanten, kontroversen Themen, an Werten oder an Politik fest.“ Der Umgang mit „Ängsten, Nöten junger Menschen oder Phänomenen der Jugendkultur“ ist Teil des Unterrichts und wird von Lehrkräften pädagogisch begleitet. „Das ist Alltag an unseren Schulen.“

Verwenden Sie den KI-Artikel-Chat

Mit der kostenlosen Registrierung können Sie Vorteile wie die Wunschliste nutzen. Es handelt sich hierbei nicht um ein Abonnement und keinen Zugriff auf FAZ+-Artikel.

Den Zugriff haben Sie mit Ihrem digitalen Abonnement.

Vielen Dank für Ihre Registrierung

Haftbefehle seien „für viele junge Menschen ein identitätsstiftendes Merkmal“, erklärt Dobrita. Die Lebensgeschichte des Haftbefehlshabers würde verschiedene Realitäten widerspiegeln: gescheiterte Integration, vernachlässigte gesellschaftskritische Themen und soziale Ungleichheit. „Es gibt so viele Themen, die man im Unterricht behandeln kann“, sagt Dobrita. Dabei fallen ihm die Lieder „069“, „1999“, „Man in the Mirror“ und „Let the Monkeys out of the Zoo“ ein. Er konnte sich auch mit der Lebensgeschichte des Haftbefehls identifizieren. Auch er wohnt in einem Plattenbau. Er weiß, wie das Leben sozial benachteiligter Menschen aussieht. Seine Eltern wanderten 2007 aus Rumänien nach Deutschland aus. „Sie wollten sich ein neues Leben aufbauen“, sagt er. „Jetzt machen sie sich Sorgen, ob sie die Miete am Ende des Monats pünktlich bezahlen können, obwohl sie beide arbeiten.“

„Ausdruck postmigrantischer Identität“

Arig Ali schließt derzeit ihr Abitur ab. Sie hat ägyptische Wurzeln, trägt ein Kopftuch und sagt: „Der Haftbefehl ist ein Beispiel dafür, was möglich ist – im positiven wie im negativen Sinne.“ Positiv ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund sehen, dass sie in Deutschland etwas erreichen können. „Man kann etwas aus sich machen“, sagt Ali – als wolle sie sich selbst und anderen Mut machen. Andererseits zeigt der Rapper, wie man sich selbst zerstören kann. „Wir können aus seinen Fehlern und schlechten Beispielen lernen“, sagt sie.

„Der Haftbefehl“, sagt Ali, „ist Ausdruck einer postmigrantischen Identität, die unsere Städte seit langem prägt.“ Diese Identität ist schmerzhaft und zerreißend, weil sie nie das Gefühl hat, als Deutsche akzeptiert zu werden. Sie denkt an die Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zum Stadtbild. Dies machte sie „fassungslos“. „Haftbefehl ist die Antwort auf die Stadtbilddebatte. Ich identifiziere mich nicht mit Goethe und Kafka“, sagt sie. Sie glaubt, dass es vielen Studenten so geht wie ihr. „Mit einem Haftbefehl kann man aber mehr Studierende ansprechen und letztlich integrieren.“ Ali und Dobrita sind sich einig, dass ein Haftbefehl Teil der kulturellen DNA Offenbachs ist; Er prägte ihre Generation.

Drogenkonsum in der Schule

Am Ende des Gesprächs wird Luca Dobrita nachdenklich: „Wir sind eine Generation, die ständig im Krisenmodus lebt.“ Pandemien, Kriege, Konflikte, ständig neue, ungefilterte Informationen – all das ist für viele Studierende zu viel und sie wissen nicht, wie sie es verarbeiten sollen. „Menschen nehmen Drogen nicht, weil sie gut für sie sind, sondern weil sie die Realität verdrängen wollen“, vermutet er. Und die Schüler würden schon früh mit Drogen in Kontakt kommen: Cannabis, Kokain, Alkohol, Zigaretten oder E-Zigaretten. „Es ist traurig, dass es mittlerweile fast zur Normalität geworden ist“, sagt Dobrita. Arig Ali nickt. Es besteht dringender Gesprächsbedarf über Drogenprävention und psychische Gesundheit an Schulen. „Aber wir haben das Gefühl, dass uns niemand entgegenkommt“, sagt sie. Wo sind die Werkstätten, Unterrichtseinheiten, Sozialarbeiter und Lehrer?

Sie haben in den letzten Tagen viel Unterstützung erhalten. Eine Mehrheit der Studierendenschaft in Offenbach, Teilen Deutschlands und Österreichs hält es für sinnvoll, Haftbefehle in die Lehrpläne aufzunehmen. „Sie wollen etwas Neues ausprobieren“, sagt Dobrita. Auch viele Lehrer stehen dieser Idee aufgeschlossen gegenüber. Natürlich, so wenden beide ein, gibt es einige Lehrer, die sagen: „Warum sollten wir über einen drogenabhängigen Rapper sprechen?“ Luca Dobrita und die städtische Schulbehörde wollen sich davon nicht unterkriegen lassen. „Das Kulturministerium beißt ins Wanken“, sagt er und lächelt. „Die nächsten Statements sind geplant. Wir werden weiter darüber reden. Das Thema ist noch nicht vom Tisch.“

Die mobile Version verlassen