Die Stahlindustrie steckt in einer tiefen Krise. Ein Aktionsplan von Industrie, IG Metall und elf Bundesländern soll nun Linderung verschaffen. Hendrik Wüst sagt Unterstützung zu – und Wirtschaftsminister Habeck macht ein Angebot.
Schlafprobleme hat Hendrik Wüst keine. „Ich schlafe selig“, sagt der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Dass seine schwarz-grüne Landesregierung gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium rund zwei Milliarden Euro Förderung für das Thyssenkrupp-Projekt „tkH2Steel“ zahlt, mit dem Deutschlands größter Stahlhersteller durch den Bau einer sogenannten Direktreduktionsanlage am Standort Duisburg in die klimafreundliche Stahlproduktion starten will, bereitet dem CDU-Politiker allerdings schlaflose Nächte.
„Ich habe zwei Nächte nicht gut geschlafen“, gesteht Wüst. „Wegen der Dimension des Projekts.“ Schließlich gehe es um viel Geld. „Und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir uns das überhaupt nicht leisten können.“
Dennoch steht die Förderung nicht infrage. „Unser Engagement ist klar und sicher. Dazu stehen wir“, sagte Wüst beim zweiten Nationalen Stahlgipfel in der Duisburger Mercator-Halle, bei dem Spitzenpolitiker aus Land und Bund mit Gewerkschaftern und Unternehmern sowie dem Verband der Stahlindustrie zusammentrafen. Stahl sei schließlich eine der Säulen des Industriestandortes Deutschland und stehe am Anfang vieler Wertschöpfungsketten. „Ohne Stahl gäbe es keinen Maschinenbau, keine Autoindustrie, keinen Wohnungs- und Infrastrukturbau“, erklärt Wüst. Stahl habe Tradition und Geschichte und sei Teil der DNA dieses Landes. „Und das soll auch so bleiben.“
Wüst bezieht sich dabei auf laufende Diskussionen, ob und warum in Deutschland überhaupt noch Stahl produziert werden soll. Die Branche steckt in einer tiefen Krise. Zum einen fehlt die Nachfrage aus den wichtigen Abnehmerbranchen, zum anderen drängen Billigimporte vor allem aus Asien auf den deutschen Markt und zerstören das Preisgefüge für die heimischen Anbieter, die derzeit wegen hoher Energiekosten und Netzentgelte kaum noch wettbewerbsfähig produzieren können. Gleichzeitig aber muss die kriselnde Branche, die hierzulande allein für sieben Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, die grüne Transformation schaffen.
„Energiekosten fressen alle Ressourcen“
Für diesen klimaneutralen Umbau fehlt es inzwischen allerdings am Geld. „Die Energiekosten fressen alle Mittel auf, die eigentlich für Investitionen in die Zukunft vorgesehen sind“, sagt Anne-Marie Großmann, Geschäftsführerin der Georgsmarienhütte Holding, und warnt: „Was heute nicht investiert wird, ist morgen oder übermorgen weg.“
Die Angst vor Schließungen und Abwanderung beunruhigt auch den Industrieverband Stahl. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist schon zwölf“, sagt Gunnar Groebler, der Präsident des Branchenverbands. Gemeinsam mit der IG Metall und den Wirtschaftsministern der elf Bundesländer mit Stahlstandorten wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Bremen, Hamburg und dem Saarland fordert er mehr Unterstützung vom Bund, um das Überleben der Stahlindustrie in Deutschland zu sichern.
Dazu haben die Beteiligten den „Nationalen Aktionsplan Stahl“ formuliert und an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) übergeben. Darin werden etwa wettbewerbsfähige Energiepreise, ein schnellerer Ausbau erneuerbarer Energien, eine Begrenzung der Stromnetzentgelte, aber auch die Schaffung grüner Leitmärkte gefordert, also die Entwicklung der Nachfrage nach CO2-reduziertem Stahl mit Hilfe öffentlicher Aufträge. „Eine wettbewerbsfähige heimische Stahlindustrie ist essenziell für industrielle Wertschöpfungsnetzwerke, Wohlstand, Beschäftigung und eine grüne Transformation in Deutschland und Europa“, heißt es in dem Aktionsplan.
„Grüner Stahl aus Deutschland ist unser Antrieb“
Bei seinem Auftritt auf dem Stahlgipfel zeigte sich Habeck bereit, mitzuhelfen. „Grüner Stahl made in Germany ist unser Antrieb“, so der Minister. Denn dem gehöre zweifelsohne die Zukunft. „Stahl wird in Zukunft grün produziert. Die politische Frage ist nur: Soll er auch in Deutschland und Europa produziert werden“, so Habeck, um die Antwort gleich selbst zu nennen: „Die Antwort darauf kann nur ‚ja‘ sein. Es ist undenkbar, dass wir in Deutschland und Europa nicht für alle Bereiche, die wir brauchen, von der Rüstungs- über die Sicherheitsindustrie bis hin zur Infrastruktur, Produktionskapazitäten für Stahl haben. Wir wären in allen wesentlichen Bereichen auf ausländische Importe angewiesen.“ Das könne nicht richtig sein.
„Das Bekenntnis zum Stahlstandort Deutschland ist ein Bekenntnis zur Resilienz nicht nur der Konjunktur, sondern der gesamten Volkswirtschaft.“ Der eingeschlagene Weg der Transformation müsse daher gemeinsam fortgesetzt werden.
Möglichkeiten zur Förderung sieht Habeck vor allem in zwei Bereichen: durch eine Änderung des Vergaberechts und durch die Subventionierung der Netzentgelte. Beim Vergaberecht denkt der Minister an Ausschreibungskriterien, die grünen Stahl aus Deutschland bevorzugen, wie er beim Stahlgipfel erklärte. „Damit wären Investitionen in grünen Stahl mit einer gesicherten Nachfrage abgesichert.“
Zweitens müsse das Thema Energiekosten angegangen werden. „Dabei geht es vor allem um Infrastrukturmaßnahmen“, erklärt der Minister. Der Ausbau der Stromnetze sei dabei von elementarer Bedeutung. „Jeder sieht, dass wir in den letzten 15, 20 Jahren zu wenig in die Wettbewerbsfähigkeit des Landes investiert haben – und das nicht zufällig. Wir waren systematisch unterfinanziert.“ Damit sei aber eine politische Begründung gegeben, die hohen Kosten des Netzausbaus nicht auf die Unternehmen abzuwälzen, die die Kosten sofort tragen müssten und Investitionen verhinderten. Stattdessen, so Habeck, solle der Staat einspringen.
„Wir sollten jetzt die Kraft solider Haushalte nutzen“
„Das eingesparte Geld ist nicht verpufft, es hat die Möglichkeit geschaffen, solide Haushalte zu haben. Diese Macht sollten wir jetzt nutzen.“ Damit sei gemeint, staatliche Kredite für den Netzausbau aufzunehmen. „Dafür können wir die starke fiskalische Feuerkraft Deutschlands nutzen.“ Zumal ja auch die nötige Infrastruktur für die nächsten Generationen gebaut werde. „Das wäre zumindest der Versuch einer politischen Argumentation – und ich finde, der ist passend für Markus Lanz und die Tagesschau.“
Mehr als Worte in einer Talkshow oder Nachrichtensendung hält Habeck beim Thema Netzentgeltfinanzierung allerdings offenbar selbst nicht für angebracht. Auf Nachfrage von WELT, wie wahrscheinlich diese Idee sei, spielte der Vizekanzler klein: „Sie ist in den laufenden Haushaltsverhandlungen nicht sehr wahrscheinlich, sonst hätten wir sie schon vorgeschlagen.“ Aber diese Debatte müsse geführt werden.
Stahlpräsident Groebler ist dementsprechend ernüchtert und hofft nun auf Gesprächsbereitschaft der Koalitionspartner SPD und FDP sowie der Opposition. „Wir brauchen einen umfassenden Konsens.“ Zumal nicht nur die Stahlindustrie betroffen sei, sondern alle energieintensiven Industrien in Deutschland.