Herr Hermann, Sie haben angesichts der Lage in der Ukraine und im Nahen Osten eine Friedensinitiative gegründet. Ist es überhaupt notwendig? Sind die meisten Menschen in Deutschland nicht für den Frieden?
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Ja, kaum jemand ist für den Krieg. Doch angesichts der anhaltenden russischen Aggression sagen viele, dass der Sieg und damit der Frieden nur mit starken militärischen Mitteln zu erreichen sei. Der Krieg in der Ukraine wird militärisch sehr einseitig wahrgenommen und diskutiert. Täglich berichten die Medien über dringend benötigte Waffenlieferungen. In Talkshows überbieten sich Politiker und Experten gegenseitig mit Forderungen. Und auch im Bundestag wird viel über Waffenlieferungen diskutiert und zu wenig über andere Wege zum Frieden, auch unter meinen Parteifreunden.
Meinen Sie Anton Hofreiter?
Besonders lautstarke Befürworter einer stärkeren militärischen Unterstützung gibt es in der CDU, der FDP und der SPD. Man hört selten vorsichtige Stimmen, die vor einer drohenden Eskalation warnen oder zu Verhandlungen drängen. Die Sorge um den Frieden ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Viele haben das Gefühl, dass diese Anliegen von den Regierungsparteien nicht gut vertreten werden. Deshalb versuchen wir mit unserer Initiative eine differenziertere Diskussion anzustoßen. Da sind ein Friedensforscher, der Geschäftsführer einer großen Volkshochschule, zwei Theologen der Evangelischen Kirche – und ich. Uns ist es wichtig, ein parteiübergreifendes Forum für einen Friedensdiskurs zu bieten, um über andere, nichtmilitärische Wege und Konzepte zum Frieden zu diskutieren, ohne gleich als Putin-Freund, Wagenknecht-Fan oder gar als Nahestehender diskreditiert zu werden AfD. Das sind nicht wir. Weil wir unsere Augen nicht vor dem Leid der Ukrainer verschließen.
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Warum war die Diskussion vorher anders?
Mit dem Ende des Wettrüstens Ende der 1980er Jahre herrschte in Deutschland nicht zuletzt dank der Friedensbewegung ein grundsätzlicher Konsens in Politik und Gesellschaft für die Abrüstung. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes wurde die Bundeswehr unter Bundeskanzler Kohl drastisch verkleinert. Deshalb bestand Konsens darüber, sich nicht an Kriegen zu beteiligen und keine Waffen in Kriegs- oder Krisengebiete zu liefern. Das wurde mit dem rot-grün-schwarz-gelben Ja zum Kosovo-Krieg und zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan gekippt. Beide haben die öffentliche Debatte verändert – die Parteien, die Gesellschaft und auch die Grünen. Wir erleben mittlerweile eine starke Militarisierung auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen, bis hin zur Sprache.
Was genau wollen Sie dem entgegensetzen?
Ich wurde oft gefragt: Wo ist die kritische Stimme derer, die einst in der Friedensbewegung und im Bonner Hofgarten waren – in der SPD, bei den Grünen oder in den Kirchen? Warum meldet sich niemand mehr zu Wort? Wir tun dies jetzt, und es gibt einige, die uns dafür dankbar sind. Wir sind nicht naiv und sagen, dass man einfach mit Putin reden muss und alles wird gut. Wir kritisieren aber die Schwarz-Weiß-Malerei und die Tatsache, dass nur auf militärischen Widerstand gesetzt wird.
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Ist das nicht notwendig?
Selbstverständlich respektieren wir, dass die Ukraine sich gegen Russland verteidigt und erkennen das Recht auf Selbstverteidigung an. Ich will und werde den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg nicht relativieren, aber die Entwicklung des zum Krieg führenden Konflikts ist keine einfache Schwarz-Weiß-Geschichte. Dazu gehören auch viele Versäumnisse und Fehler. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde in Europa keine neue Friedensarchitektur aufgebaut. Das damals neue Russland war lange Zeit offen für Zusammenarbeit und Zusammenarbeit im gemeinsamen Haus Europa. Das ist nun Geschichte, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass nur Russland unfriedlich, also „böse“ ist und die USA und die NATO immer auf dem Weg zum Frieden sind. Die USA haben in ihrer Geschichte selbst Kriege geführt, die entweder nicht völkerrechtlich geschützt waren oder auf wackeligen Füßen standen, etwa gegen den Irak oder Afghanistan. Russland nutzt dies gerne als Rechtfertigung für sein eigenes Vorgehen und sieht die NATO bedrohlich wachsen. Bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit wurde Russland zugesichert, dass die NATO an der Außengrenze der ehemaligen DDR enden würde. Tatsächlich trat ein Land nach dem anderen der NATO bei, sodass Russland offenbar irgendwann von der NATO umzingelt war. Sie sollten diese Perspektive zumindest von der anderen Seite verstehen, was nicht bedeutet, sie zu teilen. Die Entwicklung könnte auch dazu beigetragen haben, dass Putin seine Rolle als Beschützer Russlands durch Propaganda stärken konnte und sich im eigenen Land Rückhalt verschaffte, massiv gestärkt durch die mediale Allmacht und die Eliminierung der Opposition.
Ralf Stegner von der SPD wurde bei der letzten „Friedensdemonstration“ ausgebuht, weil er richtig behauptet hatte, Russland habe die Ukraine angegriffen.
Deshalb hat keiner von uns an der Demo teilgenommen. Es liegt absolut kein Fehlverhalten vor: Russland hat einen bösen, mörderischen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Es ist völkerrechtswidrig und wir kritisieren das scharf. Aber wir glauben nicht ausschließlich an militärischen Widerstand. Andere diplomatische Kanäle müssen verstärkt gesucht werden. Jeden Tag werden im Krieg in der Ukraine viele Menschen getötet und schwer verletzt, und das umkämpfte Land wird weiterhin zerstört. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist schwer zu ertragen. Deutschland hat viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und zeigt zu Recht Unterstützung und Solidarität. Neben den USA ist Deutschland der wichtigste militärische Unterstützer. Deshalb haben wir dort einen relevanten Einfluss. Ich habe gehört, dass man der Ukraine nicht vorschreiben kann, welchen Weg zum Frieden sie einschlagen soll. Aber ich denke, dass wir zu einer Friedenslösung beitragen können. Erstens, weil wir die Ukraine bisher so massiv unterstützt haben, und zweitens, weil wir alles tun müssen, um den Ausbruch eines Krieges in und mit den EU-Ländern zu verhindern. Und je weiter wir mit der militärischen Unterstützung gehen, desto größer wird diese Gefahr. Dies gilt insbesondere dann, wenn wir nun Mittelstreckenraketen in Deutschland stationieren oder zulassen, dass die ukrainische Armee westliche Raketen einsetzt, um russische Militärinfrastruktur weit hinter der Grenze zu bombardieren, oder wenn die ukrainische Armee in Russland einmarschiert. Das ist der Weg der Eskalation, der mir große Sorgen bereitet.
Sollte die Ostukraine aufgegeben werden? Selbst dann würde Putin kaum akzeptieren, dass die souveräne Ukraine der EU und der NATO beitritt.
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Was Putin am Ende tut oder nicht tut, bleibt Spekulation. Auf jeden Fall könnten die unterstützenden Staaten die Ukraine mit realistischen Verhandlungszielen unterstützen. Und China und andere Brics-Staaten könnten bei den Verhandlungen helfen. Gleich zu Beginn des Krieges stand in Istanbul ein Vertrag kurz vor der Unterzeichnung. Der ukrainische Präsident Selenskyj hätte dem zugestimmt, doch wie nun bekannt wurde, rief ihn die US-Regierung zurück. Russland war zumindest bereit zu akzeptieren, dass es für die Ukraine einen neutralen, aber geschützten Status mit Sicherheitsgarantien vom Westen gebe. Längerfristig brauchen wir eine Friedensordnung, die den Sicherheitsansprüchen der russischen Seite Rechnung trägt.
Warum muss jetzt der baden-württembergische Verkehrsminister eine solche Initiative initiieren? Kann das bei den Grünen sonst niemand machen?
Ich bin schon lange Verkehrspolitiker. Ich bin aber auch Pazifist und Kriegsdienstverweigerer, habe Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedensforschung studiert, war viele Jahre in der Friedensbewegung aktiv und habe, nicht zuletzt aufgrund der militärkritischen, „gewaltfreien“ Ausrichtung, trat 1982 den Grünen bei.
„Kanonenfutter“ oder echte Gefahr: Was Kims Söldner in Putins Krieg wirklich anrichten können
Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums hat Nordkorea rund 10.000 Soldaten nach Russland geschickt. Kommt es nun zu einer gefährlichen Ausweitung von Putins Angriffskrieg oder ist der militärische Nutzen der Streitkräfte von Kim Jong Un eher begrenzt? Das sagen Experten.
Dennoch müsste man das nicht tun, wenn es kontroverse Debatten in der Partei oder der Fraktion gäbe.
Ja, das stimmt. Auch ich habe mich lange bewusst zurückgehalten. Es frustriert mich jedoch, dass diese Debatten bei den Grünen, aber auch bei vielen anderen Gruppen und in der Gesellschaft kaum geführt werden. Das nervt nicht nur mich. Die Gruppe der Pazifisten ist mittlerweile sehr klein, auch in der Partei. Der allgemeine Tenor ist: „Mit Putin kann man nicht verhandeln. Da helfen nur Waffen.“ Dies hat noch nicht zum Frieden geführt. Deshalb suche ich den Kontakt und die Diskussion mit Menschen, die Zweifel an eindimensionalen militärischen Lösungen haben, die die Erkenntnisse der Friedens- und Abrüstungsbewegung nicht vergessen haben und die der sich abzeichnenden Remilitarisierung kritisch gegenüberstehen. Wir wollen einen breiten gesellschaftlichen Friedensdiskurs anstoßen.
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Die Grundfrage wird noch einmal gestellt: Warum gibt es dieses kritische Potenzial bei den Grünen nicht mehr? Auf Parteitagen kommen immer die gleichen Randdissidenten zu Wort. Und der Vorstand der Grünen Jugend hat gerade seinen Rücktritt angekündigt.
Im Zuge der Diskussionen um den Jugoslawien- bzw. Kosovo-Krieg und Afghanistan verließ vor 25 Jahren eine relativ große Gruppe von Kriegsgegnern das Land. Hans-Christian Ströbele, ein paar andere und ich blieben. Es war eine schwere Zeit für mich. Und ich wusste, wenn ich mit den Grünen zufrieden sein wollte, dann würde ich mich auf die Verkehrspolitik konzentrieren, wo es einen breiten grünen Konsens gibt, zumal mir diese Themen am Herzen liegen. Daran arbeite ich seit über zwanzig Jahren in unterschiedlichen Funktionen mit unaufhörlicher Leidenschaft.
https://www.ln-online.de/politik/gruenen-politiker-hermann-wir-kritisieren-die-schwarz-weiss-malerei-KSPWENAFOBGOFKUSHIBJ7SJRZU.html