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Georgien: „Die Uhr tickt“ – Die wahren Gründe, warum sich dieses Land an Russland wendet

Trotz anhaltender Proteste ist die Regierung Georgiens nicht zu einem Beitritt zur Europäischen Union verpflichtet. Moskau spielt mit den Ängsten der Bevölkerung – mit weitreichenden Folgen.

„Jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich darüber nach, wie ich dieses Regime provozieren und wie ich es stoppen kann“, sagt Tamar Kuratishvili, eine politische Aktivistin aus Georgien, die seit Monaten gegen die Regierung auf die Straße geht. Ihr Ziel: „Ich kämpfe für die Rückkehr meines Landes zum verfassungsmäßigen Rahmen.“

Für sie ist eines sicher: Nur ein starker Siegesglaube kann Georgien wieder auf den europäischen Kurs bringen. Spätestens seit der umstrittenen Parlamentswahl vor einem Jahr hat er das Land verlassen. Nachdem sich die russlandfreundliche Partei „Georgischer Traum“ im Oktober 2024 zum Sieger erklärt hatte, kündigte der irakische Ministerpräsident Kobachidse am 28. November an, dass Georgien die Beitrittsverhandlungen mit der EU erst Ende 2028 aufnehmen werde.

Noch am selben Abend versammelten sich Tausende spontan zur ersten großen Protestkundgebung vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis. Seitdem kam es fast täglich zu Demonstrationen.

Mittlerweile ist die Zahl der Teilnehmer zurückgegangen, doch der Geist ist ungebrochen. „Unser Widerstand darf nicht aufhören“, sagt Keti Tsulukidze, Lehrerin und Aktivistin. Sie ist optimistisch: „Dieses Regime kann sich nur mit Hilfe des Sicherheitsapparats über Wasser halten.“ Das Leben in Georgien, sagt Tsulukidze, sei in den letzten Monaten spürbar gefährlicher geworden. Doch genau deshalb geht sie, wie so viele andere Menschen, weiterhin auf die Straße, getrieben von dem Wunsch, ihr Land zu verändern.

Platz 94 von 167 Ländern im Demokratieindex

Die Regierungspropaganda in Georgien behauptet, der Westen wolle das Land in einen Krieg gegen Russland hineinziehen. Doch für Aktivisten wie Tamar Kuratishvili und Keti Tsulukidze stehen der Westen und die EU für Stabilität und Wohlstand. „Für mich ist die EU ein Beispiel dafür, wie ein Staat mit seinen Bürgern umgehen sollte; sie steht für Sicherheit und Frieden. Seit ihrer Gründung hat es in der EU keinen Krieg gegeben“, sagt Kuratishvili.

Lehrer Tsulukidze sieht das ähnlich: „Für mich ist die Europäische Union ein Synonym für einen gerechten Staat, in dem das Leben eines Menschen einen Wert hat. In unserem Land hat jedoch mittlerweile alles seinen Wert verloren – auch das Leben.“

Die politische Realität in Georgien ist tatsächlich düster. Im vergangenen Jahr belegte das Land im Demokratieindex des Economist den 94. Platz von 167 Ländern – fünf Plätze weniger als im Vorjahr. „Georgien befindet sich in einer anhaltenden politischen Krise – auf einem Niveau, das einer Infektion ähnelt“, sagt der Politologe Giorgi Khatiashvili.

Nach zwölf Jahren an der Macht hat die regierende Partei „Georgischer Traum“ ihre Macht mit den Parlamentswahlen 2024 und den Kommunalwahlen 2025 weiter gefestigt und mindestens bis 2028 gesichert. Ein Monopol, das die ohnehin fragile Demokratie weiter schwächt und die Transformation zur Demokratie in weite Ferne rücken lässt.

Die Entfremdung von Europa begann im Jahr 2022, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Die Regierung in Tiflis schloss sich den internationalen Sanktionen gegen Russland nicht an – aus einer Politik der „Nichtirritierung“, also dem Versuch, ein vorsichtiges Verhältnis zu Moskau aufrechtzuerhalten.

Antieuropäische Rhetorik, härteres Vorgehen gegen vom Westen finanzierte NGOs und Medien

Seit dem Krieg 2008, in dem Russland die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien besetzte, herrscht in Georgien eine latente Bedrohung. Moskau hat dort noch heute Truppen stationiert und übt ständigen Druck auf Tiflis aus. Um eine erneute Eskalation zu vermeiden, versucht die georgische Regierung, Russland nicht zu „irritieren“, und bewegt sich dabei auf dem Grat zwischen sicherheitspolitischer Vorsicht und wachsender Distanz zum Westen.

Diese Linie ebnete in der Folge den Weg für mehrere umstrittene Gesetzesinitiativen, darunter den sogenannten „Agents Act“. Mit der Verabschiedung solcher Gesetze und der Verschärfung der innenpolitischen Repression nahm auch die antieuropäische Rhetorik zu. Gleichzeitig verschärfte die Regierung ihre Haltung gegenüber vom Westen finanzierten NGOs und Medien, was den autoritären Charakter des Staates verstärkte. „Die verabschiedeten Gesetze zielen darauf ab, die Zivilgesellschaft zu zerstören“, sagte Tamta Kakhidze, General Counsel bei Transparency International Georgia.

Was die Kritik betrifft, dass Georgien sich den westlichen Sanktionen gegen Russland hätte anschließen sollen, weist Experte Khatiashvili darauf hin, dass Außenpolitik strukturellen Gegebenheiten folge und nicht auf der Grundlage bloßer Überzeugungen oder Emotionen gestaltet werden dürfe. „Georgien ist weder Mitglied der Europäischen Union noch der NATO. Daher verfügt das Land über keinerlei Sicherheitsgarantien – anders als etwa die baltischen Staaten, die Russland offen mit Sanktionen begegnen können“, erklärt er.

Auf dem Papier haben Georgien, die Ukraine und Moldawien einen gemeinsamen Feind: Russland. Eine enge Zusammenarbeit erscheint daher naheliegend, ist aber nicht so einfach. Denn ihre politischen Ausgangsbedingungen unterscheiden sich erheblich, wie Khatiashvili erklärt. „Georgien kann keine Außenpolitik gegenüber Russland betreiben wie Moldawien. Moldawien hat keine direkte Landgrenze mit Russland und hat in Rumänien einen starken Schutzpatron; viele Moldauer sind auch Rumänen, also EU-Bürger.“

Trotz der zunehmend antieuropäischen Rhetorik der Regierungspartei unterstützt weiterhin eine klare Mehrheit von 74 Prozent der Bevölkerung den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union. Von der Mitgliedschaft ist Georgien allerdings noch weit entfernt. Sollte sich der politische Kurs der Regierungspartei nicht grundlegend ändern, drohe der Abstand noch größer zu werden, warnt Khatiashvili: „Die EU könnte Georgien sogar die visumfreie Einreise entziehen. In diesem Fall stände das Land vor einem abgekühlten Verhältnis zum Westen und engeren Kontakten zu China.“ Es gäbe dann immer noch eine rein wirtschaftliche Beziehung zu Russland.

Beispiel demokratischer Transformation

Allerdings wäre ein stabiles und kooperatives Verhältnis zum Westen für Georgien von entscheidender Bedeutung, um die dringend benötigte wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität zu erreichen. Gleichzeitig wäre der EU-Beitritt auch für Brüssel von strategischer Bedeutung: Er würde die geopolitische Position der Union im Südkaukasus stärken – einer Region mit zentraler Transit- und Handelsrelevanz. Ein demokratisch stabiles Georgien könnte nicht nur seine eigene Zukunft sichern, sondern auch als Beispiel für eine erfolgreiche demokratische Transformation in der gesamten Nachbarschaft dienen.

Die Demonstrationen in Tiflis gehen weiter und die Aktivisten geben nicht auf. „Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer versinken wir im Autoritarismus“, sagt Keti Tsulukidze. „Ich habe das Gefühl, dass die Uhr tickt. Wir müssen uns beeilen, später wird es viel schwieriger, aus dieser Situation herauszukommen.“ Auch die NGOs kämpfen trotz der existenziellen Bedrohung weiter. Tamta Kakhidze von Transparency International Georgia kann nur schwer vorhersagen, wie lange sie durchhalten können: „Die Richtung, in die sich das Land bewegt, hängt letztlich davon ab, wie stark der Protestwille der georgischen Bevölkerung noch bleibt.“

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