Nachrichtenportal Deutschland

Gegner sehen eine Chance für ein Referendum

  1. Startseite
  2. Geschäft

Der Bahnhof sei eine Attraktion, sagt Bauleiter Marko Leskovar. © dw

S21 soll in einem Jahr eröffnet werden. Doch die Gegner des Stuttgarter Prestigeprojekts geben nicht auf. Mit über 20.000 Unterschriften soll ein Volksentscheid zum Erhalt des alten Kopfbahnhofs erzwungen werden.

Werner Sauerborn (75) gibt zu, dass das Sammeln von Unterschriften nicht so sein Ding ist. Er ist eher der Mann „fürs Büro“, für organisatorische Angelegenheiten. Aber es hilft nichts, jetzt muss es jeder machen. So sucht der große, dünne Mann, einst Soziologe und Gewerkschaftssekretär bei Verdi, nun etwas unbeholfen in der Stuttgarter Fußgängerzone nach Anhängern. Beim ersten Versuch, mit ihm zu sprechen, scheut er sich. „Ich habe es eilig“, murmelt eine Frau.

Werbung
Wer heute hierher pendelt, muss schmerzfrei sein – für die Fahrgäste von heute ist die Dauerbaustelle am Hauptbahnhof eine Zumutung, worauf diese Werbung anspielt. © dw

Das „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“ braucht 20.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren. Es geht nicht mehr darum, Stuttgart 21 zu verhindern. Dafür ist der verhasste neue Hauptbahnhof schon zu weit fortgeschritten. Nein, sagt Sauerborn, jetzt gehe es um den Erhalt des bestehenden alten Hauptbahnhofs. Offiziell bleibt sie nur noch bis November 2027 für den Regionalverkehr in Betrieb und wird dann stillgelegt. Doch der alte Bahnhof verfügt über 16 Gleise, der neue direkt daneben nur über acht U-Bahn-Gleise. Das reiche nicht, behauptet Sauerborn.

Etwas seltsam: Nach 15 Jahren Bauzeit ist „Stuttgart 21“ fast fertig. Pünktlich zum Fahrplanwechsel Mitte Dezember soll der neue Durchgangsbahnhof in einem Jahr, Ende 2026, in Betrieb gehen. Die berühmte S21 – die 21 stand einst angeblich für „das 21. Jahrhundert“, später wurde daraus ein Versprechen, dass der neue Stuttgarter Bahnhof 2021 in Betrieb gehen wird. Ein Missverständnis? Möglicherweise. Aber niemand widerspricht bei der Bahn, wenn es heißt, dass der Bahnhof mit fünf Jahren Verspätung in Betrieb geht. Es ist das bisher teuerste Bahnprojekt in Deutschland – die aktuellen Kosten betragen 11,45 Milliarden Euro. Nur die zweite Hauptstrecke in München dürfte dies eines Tages noch übertreffen – sie wird bereits auf über elf Milliarden Euro geschätzt. So viel Geld – und dann setzen sich die Stuttgarter für den Erhalt des alten Bahnhofs ein? Stuttgart hätte dann zwei Hauptbahnhöfe.

München-Stuttgart in 1:40 Stunden

Marko Leskovar hat dafür kein Verständnis. Er ist Bahnprojektleiter für Stuttgart 21. Routinemäßig spult der Ingenieur die Daten bei einem Rundgang über die Baustelle ab: acht Gleise, vier Bahnsteige, jeweils 420 Meter lang, betoniert in bester Sichtbetonqualität „Klasse 4“, weißzementiert. 300 Kilometer Kabel, die Temperatur in der Station bleibt konstant bei 22 Grad. Der Bodenbelag für die Bahnsteige wird derzeit bahnweise verlegt – Marke „Bethelweiß“. Für Fahrgäste wohl noch wichtiger: Die ICE-Züge sollen in alle Richtungen schneller fahren. Auf der Ende 2022 eingeweihten Schnellfahrstrecke Ulm-Wendlingen benötigt ein Zug aus München nun nur noch eine Stunde und vierzig Minuten statt bisher zwei Stunden, wenn er über den neuen Fildertunnel in den U-Bahnhof einfährt. Von München nach Frankfurt und zurück geht es nun über Stuttgart zehn Minuten schneller als über Würzburg. Sie haben die Wahl, einen Zwischenstopp am Stuttgarter Flughafenbahnhof einzulegen – oder auch nicht. Auch im Regionalverkehr werden die Distanzen kürzer. Zwischen Stuttgart und Ulm benötigt eine Regionalbahn nur noch 40 Minuten, 23 Minuten weniger als bisher, da die Züge nicht mehr die kurvige und steile Geislinger Steige überwinden müssen.

Optische Raffinessen: Lichteinfall im neuen Bahnhof. © Dirk Walter

Acht Durchgangsgleise statt 16 – reicht das? Ja, sagen die Bahnleute und verweisen auf einen Stresstest – eine Bahnsimulation aus dem Jahr 2011, die zeigen soll, wie die planmäßige Ankunft und Abfahrt von Zügen ohne Engpässe abgewickelt werden kann. Die Gegner haben ihre Zweifel – unter ihnen der Schauspieler Walter Sittler, eine prominente Stimme im S21-Widerstand. Der Stresstest, sagt Sittler, funktioniert nur ohne Zwischenfälle. Nur ein Zug verspätet – Chaos bricht aus, weil der Bahnhof einfach mit zu wenigen Gleisen geplant wurde. Für Widerstandssenior Sauerborn ist der neue Bahnhof lediglich „ein Immobiliendeal“, denn die Stadt Stuttgart habe den Kopfbahnhof und die Gleisflächen davor gekauft und warte darauf, dass diese endlich bebaut werden. Erste Pläne gibt es bereits. Doch das wollen die Leute vom Aktionsbündnis verhindern.

Mann der ersten Stunde: Werner Sauerborn sammelt Unterschriften. © dw

Niemand bestreitet, dass der neue Bahnhof ein architektonisches Juwel ist. Über eine staubige Baustellentreppe steigt man hinunter in einen lichtdurchfluteten U-Bahnhof. Das liegt an den 28 Stützen, die wie ein umgedrehter Kelch geformt sind und daher Kelchstützen genannt werden und durch ihre „Lichtaugen“ viel natürliches Licht hereinlassen. Sie sind der ganze Stolz der Bahnhofsbauer. Eine Ausstellung zeigt, dass für jeden der zwölf Meter hohen Kelche 350 Tonnen Stahl verwendet wurden. Ein „Team türkischer Eisenweber leistete Pionierarbeit.“ Das hatte seinen Preis – aber niemand sagt, wie viel günstiger normale Betonpfeiler gewesen wären. „Wir bauen keine Tiefgarage“, spottet Ingenieur Leskovar. Der Bauleiter prognostiziert, dass der Entwurf des Architekten Christoph Ingenhoven eines Tages „Architekten aus aller Welt“ begutachten wird. Es liegen bereits Anfragen vor. Die Baustellenführungen sind gut besucht – über 100.000 Besucher pro Jahr.

Der Unterschriftensammler Werner Sauerborn kämpft für den Erhalt des alten Bahnhofs. © Dirk Walter

Neben Gleis 16 am alten Kopfbahnhof befindet sich in einem vierstöckigen Turm eine Dauerausstellung. „Wir nennen es den Turm der Lügen“, sagt S21-Widerstandsmitglied Sauerborn. Unbestritten ist aber, dass man von oben auf dem Bahnsteig einen guten Blick auf das Bahnhofsviertel hat. Stockwerk für Stockwerk steigen Sie die Treppe hinauf und können an den Ausstellungswänden im Treppenhaus das Bahnhofsprojekt seit seiner Entstehung verfolgen. Die Planung begann 1988 und 1997 wurde der Ingenhoven-Entwurf von einer Jury als „bedeutendes städtebauliches Symbol“ ausgewählt. Damals sprach niemand über den Preis. Doch Schritt für Schritt wurde es teurer: 2007: 4,5 Milliarden Euro, 2012: 6,5 Milliarden, 2018: 8,2 Milliarden. Mittlerweile sind es über elf Milliarden und das soll auch so bleiben. Nach einem letztinstanzlichen Urteil bleibt die Deutsche Bahn auf dem Großteil der Kosten sitzen und muss allein 6,5 Milliarden Euro tragen.

Die „Augen des Lichts“ (hier in einer Simulation) sollen begrünt und der alte Kopfbahnhof bebaut werden (weiße Gebäude). © db

Zurück zum Unterschriftensammler Sauerborn, der nun auf einen Mann mit Gehhilfe zufährt. Mit ihm hat er mehr Erfolg. Nach einigem Hin und Her gibt der Rentner seine Unterschrift. Rund 22.000 Unterschriften wurden bis Mittwochabend von der Initiative „Bahnhof mit Zukunft“ gesammelt und pünktlich um 23.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Ablauf der Frist, im Rathaus abgegeben. „Wir haben allein in den letzten Tagen über 10.000 Unterschriften gesammelt“, sagt Sauerborn. Nach Abzug von Doppeleinträgen und Fehleingaben könnte das für eine Volksabstimmung reichen. „Im nächsten Schritt wird die Stadtverwaltung die Anzahl der Unterschriften ermitteln und deren Zulässigkeit prüfen“, heißt es in einer Mitteilung der Stadt.

Sauerborn war von Anfang an Teil des Widerstands. In der Vergangenheit habe es viel „zivilen Ungehorsam“ gegeben und der Zugang zu Baustellen sei blockiert worden. „Ich habe mich auch oft hinreißen lassen.“ Den „Schwarzen Donnerstag“ erlebte Sauerborn auch im Jahr 2010, als Polizisten mit brutaler Gewalt eine Demonstration der sogenannten Parkwächter auflösten. Ergebnis: Über 100 Verletzte, ein inzwischen verstorbener Rentner verlor durch den Wasserwerferstrahl sein Auge. Und auch wenn die Unterschriftensammlung langsam voranschreite und das Bürgerbegehren scheitern dürfte, sei es wichtig, dass der Widerstand die Menschen nun wieder zusammengeführt habe, sagt Sauerborn. Sie werden S21 nicht mehr stoppen. Vielleicht der Abriss des alten Kopfbahnhofs.

Schöne neue Bahnwelt: Stuttgart 21 in der DB-Simulation. © db

Ob die Station tatsächlich wie geplant Ende 2026 in Betrieb geht, werden wir sehen, ob es klappt. Und ob sich eine hartnäckige Legende in Luft auflöst – oder wahr wird. Der Bahnhof ist leicht geneigt, die Bahnsteige sind an einem Ende sechs Meter höher als am anderen. Bedeutet das, dass sich abgestellte Koffer oder gar Kinderwagen ungewollt selbstständig machen? „Das ist Unsinn“, sagt Ingenieur Marko Leskovar. „Wir werden sehen“, sagt Werner Sauerborn, der Mann vom Widerstand.

Die mobile Version verlassen