Die Ukraine bittet weiter um Hilfe gegen Russland. Friedensnobelpreisträger Matwijtschuk warnt, in den besetzten Gebieten herrsche „Terror“.
München – Erst am Freitagabend bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass Deutschland im Ukraine-Krieg keine Taurus-Marschflugkörper nach Kiew schicken werde. Der mehr oder weniger deutlich genannte Hintergrund ist die Angst vor einer Eskalation mit der Atommacht Russland. Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk hat sich mit IPPEN.MEDIA Für diese Haltung zeigte sie nun Verständnis – warnte zugleich aber eindringlich: Sollte es keine Unterstützung für die Ukraine geben, drohe für die ganze Welt eine „Katastrophe“.
Sorge vor nuklearer Eskalation: „Ich habe Mitgefühl – sie wollen die Realität nicht akzeptieren“
„Ich habe Empathie mit diesen Menschen“, sagte Matwijtschuk in dem Interview am Samstag (21. September) mit Blick auf Scholz‘ Haltung, aber auch generelle Besorgnis in Deutschland. „Denn sie wollen die Realität nicht akzeptieren, dass die Weltordnung, wie wir sie kannten, am Ende ist.“ Das gesamte Friedens- und Sicherheitssystem der Vereinten Nationen „bricht vor unseren Augen zusammen“, fügte sie hinzu. Bisher sei dies etwa in Syrien, Myanmar und Afghanistan zu spüren – und nun auch in Europa mit dem Krieg in der Ukraine.
Der russische Präsident Wladimir Putin sei bislang „ungestraft“ davongekommen, betonte sie. Und autoritäre Staaten wie China, Iran und Nordkorea beobachteten dies aufmerksam. Auch sie könnten sich für die Durchsetzung ihrer geopolitischen Ziele zu Gewalt entscheiden, warnte Matwijtschuk: „Wenn wir heute Angst haben, unsere Komfortzone zu verlassen, erwartet uns morgen eine Katastrophe.“
Streit um Taurus im Ukraine-Krieg: Nobelpreisträger erwartet Lieferung – „doch die Zeit läuft ab“
Die Ukraine erlebe bei Waffenanfragen stets das gleiche Szenario, erläuterte der Menschenrechtsanwalt: Auch bei modernen Panzern oder F16-Kampfjets habe es zunächst eine „scharfe Debatte“ gegeben, bevor diese Mittel geliefert würden. „Insofern bin ich sicher, dass diese Entscheidung noch geändert wird“, sagte Matwijtschuk mit Blick auf die umstrittene Taurus-Lieferung oder die Erlaubnis, westliche Waffen auch gegen tiefer in Russland gelegene Ziele einzusetzen: „Aber die Zeit läuft uns davon.“
„Das Problem ist, dass die Menschen in der Ukraine die Zeit ganz anders wahrnehmen als die Menschen in Deutschland oder Frankreich“, erklärt sie. „Denn im Krieg wird für uns Zeit in unzählige Tote umgewandelt.“ Jeder Tag Verzögerung führe zu unzähligen Toten auf den Schlachtfeldern, im Hinterland und in den besetzten Gebieten. „Politiker können diese Verzögerungen mit Eskalationsängsten erklären. Doch Russland hat bereits alle roten Linien überschritten.“
„Frieden“ mit Putins Russland? „Eine Besatzung lindert das Leid nicht, sie macht es nur unsichtbar“
Matwijtschuk warnte im Gespräch mit IPPEN.MEDIA zugleich warnte er vor der Annahme, ein diplomatischer Kompromiss mit Russland würde Frieden bedeuten. Moskau habe in seinem Kampf um die Kontrolle über die besetzten Gebiete Terror gegen die Zivilbevölkerung etabliert. „Die Russen haben eine aktive lokale Minderheit absichtlich ausgelöscht; Journalisten, Bürgermeister, Freiwillige, Geistliche, Lehrer zum Beispiel. Sie bringen ukrainische Kinder nach Russland, um sie ‚russisch‘ erziehen zu lassen.“
Die Bevölkerung dort lebe in einer Grauzone ohne Schutz und Rechtsmittel. „Um es klar zu sagen: Eine Besatzung lindert das menschliche Leid nicht, sie macht es nur unsichtbar“, betonte Matwijtschuk. Auch deshalb brauche es ein klares Ziel: einen Sieg der Ukraine über den Aggressor Russland. „Wir brauchen eine gemeinsame Strategie – und wir können keine Strategie mit unseren internationalen Partnern haben, wenn wir kein gemeinsames Ziel definiert haben“, warnte sie.
Matwijtschuk erhielt den Friedensnobelpreis 2022 als Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties (CCL). Das CCL dokumentierte unter anderem Menschenrechtsverletzungen bei der Niederschlagung der Euromaidan-Proteste und später russische Kriegsverbrechen in besetzten Gebieten. Die 40-Jährige betonte am Samstag zudem, die Ukraine sei „sehr dankbar“ für die Unterstützung aus Deutschland: „Das hilft uns zu überleben.“ (fn)