Noch eine Kapriole. Am späten Freitagabend erteilte der französische Präsident Emmanuel Macron Sébastien Lecornu, seinem vielleicht letzten treuen Weggefährten, ein zweites Regierungsmandat innerhalb eines Monats. Er hat eine „carte blanche“, also freie Hand, sodass er regieren kann, wie er es für richtig hält. Macron traut sich offenbar zu, Kompromisse einzugehen und dem Land einen Haushalt für das kommende Jahr vorzulegen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Franzosen diese Operation ihres Präsidenten verstehen werden. Der 39-jährige Norman Lecornu ist erst vor vier Tagen als Premierminister zurückgetreten. Macron bat ihn daraufhin, die letzten Verhandlungen zu führen. Anschließend erschien Lecornu im Fernsehen und sagte, seine „Mission“ sei erfüllt. Aber fügte hinzu: „Ich bin ein treuer Soldat.“ Schon jetzt zeichnete sich ab, dass er zurückkommen könnte – aus Pflichtgefühl, im Dienste des Chefs.
Der Nominierung ging ein beispielloses Treffen im Palais de l’Élysée voraus, zu dem der Präsident alle Parteien einlud – außer der rechtsextremen Rassemblement National und der radikal linken France insoumise. Diese Parteien hätten eine Auflösung des Parlaments gefordert, was sie von der Ernennung ausgeschlossen habe, hieß es. Die Einladung zu diesem Treffen, und das ist auch denkwürdig, wurde mitten in der Nacht zuvor um 2 Uhr morgens per E-Mail verschickt. Ein weiterer Hinweis darauf, wie fieberhaft der Präsident die größte Krise bewältigt, mit der er seit seiner Machtübernahme im Jahr 2017 konfrontiert ist. Wie unberechenbar. Macron ist isoliert.
Die Linke hatte ihren Anspruch auf die Regierungsbildung – eine Minderheitsregierung – erklärt
Das Treffen dauerte etwa zweieinhalb Stunden. Man hört, dass die Partei- und Fraktionsführer ihre Handys abgeben mussten, damit nichts nach außen dringt. Als die Teilnehmer den Palast verließen, wollten nur noch die Linken mit der Presse sprechen: die Sozialisten, die Grünen und die Kommunisten. Sie hatten in den Tagen zuvor ihren Anspruch auf die Regierungsbildung – eine Minderheitsregierung – angemeldet. Für eine absolute Mehrheit wären 289 Sitze nötig.
Die Argumentation der Linken lautete so: Da sie bei den jüngsten Parlamentswahlen als stärkste Kraft hervorgegangen sei, sei es legitim, dass sie nun auch versuchen könne zu regieren. Die stärkste Fraktion ist mit 191 Sitzen nur gemeinsam mit der Linken Frankreich insoumise – und das ist in den letzten Monaten zurückgegangen. Allein die gemäßigte Linke hat nur 124 Sitze in der Nationalversammlung.
Das sah auch Macron so. Er argumentierte, dass sein Lager, die Zentristen und die Republikaner, eine stabile „gemeinsame Basis“ von 210 Abgeordneten seien – so nennt sich das Bündnis: „Socle Commun“. Auch das ist keine Mehrheit, aber mehr als 124 oder 191.
Der frühere Handlanger Édouard Philippe hat vor wenigen Tagen spektakulär mit Macron gebrochen
Aber diese Basis ist nicht solide. Die am vergangenen Sonntagabend ernannte erste Regierung von Sébastien Lecornu, sozusagen Lecornu I., hatte nur 14 Stunden überlebt. Dann flogen sie wieder auseinander, weil sie… Republikaner fühlte sich von den Macronisten bei der Vergabe bestimmter Positionen betrogen. Jetzt rechnet Macron damit, dass dieselbe Koalition und derselbe Premierminister die beste Wahl für die Zukunft des Landes seien.
Zu diesem Bündnis gehört auch Horizons, die Partei des ehemaligen Premierministers Édouard Philippe. Der alte Handlanger des Präsidenten hat vor wenigen Tagen spektakulär mit Macron gebrochen: Er forderte sogar seinen vorzeitigen Abgang, ein Novum in der Geschichte der 5. Republik. Sie müssen wissen, dass Philippe selbst Präsident werden möchte.
Ob der neue Ministerpräsident die nächsten Tage und Wochen überleben wird, ist eher fraglich. Er muss einen Haushaltsentwurf durch das Parlament bringen und den Entwurf bis Montag vorlegen, um die gesetzlichen Fristen einzuhalten. Ist das überhaupt möglich? Gleich nach seiner Wiederernennung schrieb Lecornu auf X, er werde dafür sorgen, dass Frankreich am Jahresende über einen Haushalt verfüge. Und wie sieht es mit der neuen Regierung aus – wird sie am Wochenende ernannt? Die Sozialisten haben bereits angekündigt, dass sie das neue Kabinett stürzen würden, wenn es nicht bereit sei, Macrons unpopuläre Rentenreform auszusetzen. Gehört eine Überarbeitung der Reform zum „Freibrief“?
Die Franzosen haben, wie alle Umfragen zeigen, die einzigartig barocke Wirrnis ihrer Politik satt. Sie sind es auch nicht gewohnt. Unterdessen schwindet Macrons Gunst beim Volk dramatisch: Nur noch 14 Prozent vertrauen ihm. Seit 1958, dem Beginn der 5. Republik, war kein französisches Staatsoberhaupt so tief gefallen.
Für Populisten an beiden Enden des politischen Spektrums kann das politische Chaos nicht groß genug sein. Sie profitieren davon. Während die Parteien mit Macron im Palast saßen, besuchte Marine Le Pen einen Feuerwehrkongress auf dem Land, umgeben von vielen Menschen, von denen viele ein Selfie mit ihr machen wollten. Sie sagte über das Treffen im Élysée, es sei ein „Treffen der Teppichhändler“, ein „elendes Spektakel“.