Was wäre, wenn ein Künstler die Zeit anhalten könnte? Wenn er nur „Stopp!“ rufen müsste, um das hektische Treiben auf den Straßen einzufrieren? Vielleicht könnte er damit sogar die Welt in eine bessere verwandeln. Doch zunächst müsste er bereit sein, die alte dem Erdboden gleichzumachen, ein unvermeidlicher Kollateralschaden. Welch gottgleiche Vorstellung von Allmacht!
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Diese unwahrscheinliche Fähigkeit besitzt der von maßlosem Idealismus besessene Architekt Cesar Catilina (Adam Driver), der mit Sprengstoff ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichmacht. Hoch über New York sitzt er im Chrysler Building und hat ein sensationelles Baumaterial namens Megalon erfunden. Damit will er eine neue Metropole errichten, denn die alte steht kurz vor dem Zusammenbruch: Sie versinkt in Gier und Korruption.
Die Stadt sieht aus wie New York in Francis Ford Coppolas Spätwerk „Megalopolis“, heißt aber Neu-Rom. Die neue römische Elite trägt Toga und Riemchensandalen auf dekadenten Partys, alte Männer tragen Lorbeerkränze auf ihren grauen Köpfen. In den verarmten Vororten kleidet man sich wie heute. Von einer Spaltung der Gesellschaft ist die Rede.
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Regisseur Coppola ließ sich nach eigenen Worten von der Catilinarischen Verschwörung inspirieren. Senator Lucius Sergius Catilina wollte im Jahr 63 v. Chr. im moralisch geschwächten Rom die Macht an sich reißen, traf in Cicero jedoch auf einen rhetorisch überlegenen Gegner. Die historische Parallele wäre einem ohnehin in den Sinn gekommen. Um auf Nummer sicher zu gehen, zeigt Coppola zu Beginn eine der zahlreichen Marmorinschriften. Sie lautet: „Unsere amerikanische Republik unterscheidet sich nicht sehr vom antiken Rom. Können wir unser Erbe retten oder werden wir dem unersättlichen Machthunger einiger weniger Männer zum Opfer fallen?“
Es scheint, als wollte Coppola mit seinem wohl letzten großen Film die Welt für einen Moment zum Nachdenken bringen. Bis dieser verrückte Film, dessen Handlung mitunter schwer nachzuvollziehen ist, fertig war, musste er allerdings vier Jahrzehnte warten. Hunderte Drehbuchentwürfe soll Coppola verfasst haben. Im Lauf der Jahre verhandelte er mit Schauspielern wie Paul Newman, Al Pacino, Michelle Pfeiffer und Cate Blanchett. Doch das Geld war ihm immer knapp.
Endlich begannen die Dreharbeiten in New York. Dann krachten zwei Flugzeuge ins World Trade Center. An einen Film über die Zerstörung New Yorks war nach dem Terroranschlag vom 11. September nicht mehr zu denken. Später wollte kein Hollywood-Studio mehr bei diesem Großprojekt eines erfahrenen Filmemachers mitmachen. Am Ende verkaufte der heute 85-Jährige einige kalifornische Weinberge und investierte 120 Millionen Dollar in „Megalopolis“ – ähnlich wie bei „Apocalypse Now“ (1979), jenem Vietnamkriegsfilm, der „nicht von Vietnam handelte, sondern Vietnam selbst war“, wie Coppola einmal sagte.
Coppola und sein Kumpel George Lucas
Angesichts dieser Entstehungsgeschichte ist es naheliegend, dass der Regisseur in seinem eigenen Leben Parallelen zum Visionär Catilina sieht. Als junger Wilder zog Coppola mit seinem Freund George Lucas aus, um das alte Hollywood zu stürzen. Nun agiert er wieder unabhängig vom System.
Catilins Gegenspieler ist Bürgermeister Franklyn Cicero (Giancarlo Esposito), ein Mann des Establishments. Er lehnt Veränderungen ab. Um das Volk aufzumuntern, lässt er protzige Casinos bauen und feiert Beton als Baumaterial – was anklingt wie Donald Trumps Aufruf nach mehr Öl („Wir werden bohren, Baby, bohren!“). Ciceros Tochter Julia (Nathalie Emmanuel) verliebt sich in den charismatischen Architekten Catilina, eine geradezu shakespearesche Ausgangslage.
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Shakespeare wird hier jedenfalls ebenso zitiert wie Mark Aurel oder Jean-Jacques Rousseau. Der Ton wechselt nahtlos vom Heroischen zum Slapstick, wenn ein intriganter Populistensohn (Shia LaBeouf) von seinem Vater (Jon Voigt) mit einem goldenen Pfeil in den Hintern geschossen wird. Zwischendurch stürzt die überwältigte Justitia von ihrem Sockel, und Pferde rasen bei einem Wagenrennen um ein Kolosseum.
Adam Driver: „Experimentelles Theater“
Man weiß nicht, mit welchen Ideen man anfangen und mit welchen man aufhören soll. Coppola ging es offenbar genauso. Hauptdarsteller Adam Driver brachte es auf den Punkt: Er fühlte sich wie im Experimentaltheater – allerdings mit einem Budget von 120 Millionen.
So exzessiv wie der gesamte Film sind auch die Anspielungen des Regisseurs auf die Kinogeschichte. Mal huschen expressionistische Riesenschatten über die Wände, mal balancieren Catilina und Julia in schwindelerregender Höhe wie in Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ (1936).
Während der Dreharbeiten drangen Berichte über chaotische Zustände an die Öffentlichkeit. Das Ensemble stand stundenlang herum, während Coppola überlegte, was er als nächstes drehen sollte. Später war auch von sexuellen Übergriffen des Regisseurs die Rede, euphemistisch als Old-School-Verhalten bezeichnet. Die Frauen in „Megalopolis“ sind jedenfalls oft leicht bekleidet. Gegen Presseberichte dieser Art hat Coppola gerichtlich vorgegangen.
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Wie dem auch sei: Coppola hat mit seinem Film einen Film geschaffen, der aus jeder künstlerischen Routine ausbricht. An den Kinokassen gibt es allerdings große Zweifel. Aber was macht das schon? „Geld spielt keine Rolle“, sagte Coppola bei der Premiere in Cannes.
Vielleicht hat er sogar einen hinterhältigen Film über die US-Wahl 2024 gedreht: Ein gewisser Präsidentschaftskandidat mit einer Meerschweinchenfrisur auf dem Kopf und einem Lorbeerkranz obendrauf würde in diesem verrückten Panoptikum nicht einmal auffallen.
„Megalopolis“, Regie: Francis Ford Coppola, mit Adam Driver, Nathalie Emmanuel, Giancarlo Esposito, 138 Minuten, FSK 12