D Die Ukraine kämpft heldenhaft gegen Putin – das hören wir immer wieder. Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht eine Halbwahrheit. Die Ukraine kämpft erfolgreicher gegen Russland, als Putin erwartet hatte. Aus einem Blitzkrieg, wie man ihn sich in Russland vorstellt, ist mittlerweile ein Stellungskrieg geworden, in dem keine Seite wirklich erfolgreich ist. Wer heute an der Front kämpft, tut dies meist nicht, weil er sich freiwillig gemeldet hat, sondern weil er in die Hände der TZK-Militärbehörde gefallen ist, die ihn kurze Zeit später auf der Straße aufgegriffen und in einen Schützengraben gesteckt hat.
Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft haben zwischen Januar und September 2025 156.360 Männer unerlaubt die Truppe verlassen oder sind desertiert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher als von ukrainischen Politikern und Militärs vermutet. Auf meiner letzten Reise von Kiew nach Berlin im September waren von 60 Passagieren im Bus mehr als ein Dutzend Männer unter 23 Jahren. Auf meiner Rückreise von Deutschland nach Kiew war kein einziger junger Mann unter den Passagieren.
Wer wie ich aus der Ukraine nach Deutschland reist, wundert sich zunächst über die vielen ukrainischen Männer auf öffentlichen Plätzen in Deutschland. In der Ukraine sind in den Bussen fast nur Frauen unterwegs, auch in den Geschäften und Cafés sind überwiegend Frauen. Viele Männer haben ihre Häuser seit Beginn des russischen Angriffs aus Angst vor der TZK nicht verlassen.
Rund 1,5 Millionen Männer geben ihre Daten illegal nicht an die Militärbehörden weiter und entgehen so der Einberufung. Kurz gesagt: Wer von einem heroischen Kampf der Ukrainer gegen Putin spricht, sollte der Ehrlichkeit halber auch sagen, dass sich ein sehr großer Teil der männlichen Bevölkerung diesem Kampf entzieht. Eine Abstimmung mit den Füßen. Diese Meinungsäußerung sollte bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
Ein sehr großer Teil der männlichen Ukrainer zieht sich aus dem vermeintlich heroischen Kampf zurück
Am 24. Februar 2022 erlebte ich die russische Invasion in der Ukraine. Die russischen Truppen waren nur 20 Autominuten von meiner Wohnung entfernt. Ich bin kein Pazifist. Wenn die Russen vor meinem Haus gestanden hätten, hätte ich auch geschossen, wenn man mir eine Waffe gegeben hätte. Aber Selbstverteidigung war gestern. Heute werden bei den Angriffen auf Russland Kinder und andere Zivilisten mit „unseren“ Waffen getötet, Chemiefabriken und Petrochemieanlagen zerstört, der zivile Flugverkehr mit Drohnen behindert und ein Staudamm angegriffen, wie es in Belgorod geschehen ist. Und es gibt Dinge – wie das Töten von Kindern und anderen Zivilisten – die ich nicht unterstütze, selbst wenn sie einem guten Zweck dienen. Und all dies geschieht unter dem Narrativ des „Kampfes gegen Putin“.
Es ist richtig, dass Russland wegen seines Angriffskrieges sanktioniert wird und russische Vermögenswerte eingefroren werden. Wir sollten weiterhin aktiv im Getriebe des russischen Angriffskrieges mitwirken. Aber Verhandlungen liegen auch im Interesse der Ukraine – direkt mit Putin, dem Herrn über Leben und Tod. Je länger die Ukraine mit den Verhandlungen wartet, desto schlechter wird ihre Verhandlungsposition.
Aber ist Putin tatsächlich zu Verhandlungen bereit? Der aktuelle Stand ist: Die Ukraine ist zu einem sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen bereit, der den Verlust großer Teile der Gebiete Donezk und Luhansk de facto zementieren würde. Russland will derzeit keinen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen. Aber was Russland wirklich will, ist nicht so klar. Während sich Putins Sonderbeauftragter Kirill Dmitriev kürzlich zu Verhandlungen in die USA wagte, lehnte Ex-Präsident Dmitri Medwedew auf Telegram „sinnlose Verhandlungen“ ab. Das Spektrum der Positionen zu weiteren Verhandlungen im Umfeld Putins ist daher breit.
Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass man mit Putin nicht reden könne und Präsident Selenskyj sogar ein Dekret erlassen habe, das Verhandlungen mit Putin verbiete, wird Putin nun mangelnde Verhandlungsbereitschaft vorgeworfen – ein Widerspruch. Die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, Putin zu Verhandlungen zu bewegen. Einseitige Schritte, wie etwa ein von Selenskyj Anfang Oktober ins Leben gerufener einseitiger Luftwaffenstillstand, wären ein guter Anfang.
Der Hass auf Russland zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung in der Ukraine und anderswo. Auf einer öffentlichen Grünfläche in der Protassiw-Jar-Straße in Kiew steht der Spruch: „Je mehr Russen wir heute töten, desto weniger werden unsere Kinder töten müssen.“ Es würde den Frieden fördern, wenn in der Ukraine etwas gegen solche Hassreden unternommen würde. Es wäre friedensfördernd, wenn die Ukraine Russisch respektieren würde, zumindest in den Gebieten, in denen überwiegend Russisch gesprochen wird – wie es in Demokratien eigentlich der Fall sein sollte.
Es ist eine Illusion, an den Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu glauben. Das derzeit Mögliche ist ein Waffenstillstand. Und wenn das auch nicht gelingt, gilt es, kleine Kuchen zu backen, etwa mit einem von Selenskyj ins Spiel gebrachten einseitigen Waffenstillstand in der Luft, einem weiteren Gefangenenaustausch oder einer Fortsetzung der russisch-ukrainischen Verhandlungen auf der Ebene der Menschenrechtsbeauftragten.
Als Gegenargument wird immer wieder vorgebracht, dass ein Waffenstillstand wenig nützen werde, da man sicher sei, dass es in zwei Jahren wieder zu einem Krieg kommen werde. Dennoch: Zwei Jahre Waffenruhe sind besser als null Jahre Waffenruhe. In zwei Jahren kann die Welt ein ganz anderer Ort sein. Und eines ist sicher: Auch in der Ukraine wird dieser Winter hart.
