Was ist in Georgien los?
Die Regierungspartei Georgischer Traum (KO) behauptet nach offiziellen Angaben, die Parlamentswahl am 26. Oktober mit knapp 54 Prozent der Stimmen gewonnen zu haben. Doch nicht nur die Opposition und zahlreiche NGOs weigern sich, die Wahlergebnisse anzuerkennen. Auch Präsidentin Salome Zurabischwili ist dazu nicht bereit. Sie spricht von einer illegalen Wahl, einer russischen Sonderoperation und massivem Wahlbetrug. Einen Tag nach der Wahl rief Surabischwili zu Protesten auf.
Welche Rolle könnte der Präsident jetzt spielen?
Leider nicht mehr zu groß. Surabischwilis Mandat läuft in wenigen Wochen aus. Das nächste Staatsoberhaupt wird nicht mehr direkt, sondern von einem Wahlkollegium aus Parlamentariern und Delegierten der Regionen gewählt. Dies entspricht in etwa der deutschen Bundesversammlung. Wenn Zurabishvili erneut kandidiert, sind ihre Chancen auf eine Wiederwahl schlecht, da der KO einen anderen Kandidaten unterstützen wird.
Am Wahltag waren zahlreiche lokale und internationale Wahlbeobachtungsmissionen im Einsatz. Worüber beschweren sie sich?
Das Register der Sünden ist lang. Hier nur einige Beispiele: Beobachtern zufolge wurde das Wahlgeheimnis vor allem durch die erstmals eingesetzten elektronischen Registrierungs- und Auszählungsmaschinen massiv verletzt. Tausende Ausweisdokumente wurden illegal verwendet und oft stimmte dieselbe Person mehrfach ab. Wahlbeobachter und Journalisten wurden körperlich und verbal angegriffen und in ihrer Arbeit behindert. Hinzu kommen die Einschüchterung der Wähler und massenhafte Bestechungsversuche. Insgesamt sollen bis zu 300.000 Stimmen von Betrug betroffen sein. Die Opposition fordert eine internationale Untersuchung und einige georgische NGOs fordern eine teilweise Annullierung der Wahl.
Die KO verfügt über eine solide Wählerklientel mit einem starken Wunsch nach Stabilität
Gibt es dazu offizielle Reaktionen aus Georgien?
Die Zentrale Wahlkommission hat angekündigt, die Stimmen von fünf Wahllokalen in jedem Wahlbezirk erneut zu prüfen. Das entspricht 14 Prozent aller Stimmen. Auf ihren Antrag hin leitete die Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung wegen Wahlbetrugs ein. Die Nachzählung sei inzwischen abgeschlossen und es habe sich zu den bekannten Ergebnissen keine Änderungen ergeben, heißt es.
Kaum jemand zweifelt daran, dass der Georgische Traum derzeit die stärkste Kraft in Georgien ist – auch wenn er Kreml-Narrative wiederholt und gegen den Westen hetzt. Wie lässt sich sein Erfolg erklären?
Auch wenn berechtigte Zweifel an der Mehrheit der KO bestehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Partei mindestens 40 Prozent erreicht hat. Denn die KO verfügt über eine solide Wählerklientel mit einem starken Wunsch nach Stabilität, welcher Art auch immer. Darüber hinaus scheint die umwerfende Botschaft, dass es eine Wahl zwischen Krieg und Frieden ist, angenommen worden zu sein. Der Friedensengel ist natürlich der KO. Und wenn es um Kriege gegen Russland geht, haben die Georgier schlechte Erfahrungen gemacht, etwa 2008 im Fall der von Russland unterstützten abtrünnigen Region Südossetien. Derzeit sind 20 Prozent des georgischen Territoriums von russischen Truppen besetzt.
Was hat die proeuropäische Opposition falsch gemacht?
Umfragen zufolge liegt die Zustimmung zur EU in Georgien stabil bei rund 80 Prozent. Das kann also nicht der Grund für die Niederlage gewesen sein. Der Fehler der Opposition: Sie stilisierte die Abstimmung zur schicksalhaften Wahl zwischen Europa und Russland. Demgegenüber stand jedoch ihre Leistung: eher ein Nebeneinander als ein Nebeneinander der zahlreichen Einzelgruppen. Erst in der Schlussphase des Wahlkampfs kam die vielfältige Gruppe der Parteien und Parteikoalitionen zusammen und unterzeichnete eine von Präsident Zurabischwili initiierte „Georgische Charta“. Dieser sieht vor, dass im Falle eines Wahlsiegs alle Gesetze, die der EU-Integration im Wege stehen, abgeschafft werden und im Jahr 2025 Neuwahlen stattfinden. Doch Details zu diesem Plan blieben unklar. Das hat offenbar viele Wähler nicht überzeugt.
Die vier Oppositionsgruppen, die die Fünf-Prozent-Hürde überwunden haben, wollen nun das Parlament boykottieren. Kann es dann überhaupt funktionieren?
Ja, denn dafür sind mindestens 76 Abgeordnete erforderlich und die KO kann dieses Quorum mit 89 Abgeordneten im Parlament problemlos erreichen.
Die Straße bleibt bestehen. Wie hoch sind die Chancen, dass die Proteste weitergehen?
Das ist schwer zu sagen. Georgier haben durchaus Durchhaltevermögen, wenn es um Proteste geht. Im Jahr 2023 erreichten sie mit wochenlangen Massenprotesten die Rücknahme des sogenannten „Agents Act“. Angeblich sollte das Gesetz Transparenz für Medien und Nichtregierungsorganisationen schaffen, die mehr als 20 Prozent ihrer finanziellen Mittel aus dem Ausland beziehen. Tatsächlich soll damit die Zivilgesellschaft kontrolliert werden. Das Gesetz wurde im Frühjahr erneut vorgelegt, woraufhin äußerst restriktive Anti-LGBTQ+-Regelungen folgten. Die Menschen gingen erneut auf die Straße, doch dieses Mal blieben die Demonstrationen erfolglos; beide Gesetze sind inzwischen in Kraft. Die Protestbewegung kam von unten und hatte keine klaren Führer. Jetzt nach der Wahl würde alles anders sein. Es ist jedoch bekannt, dass aktive Vertreter der Zivilgesellschaft ein Problem damit haben, sich um Politiker zu scharen.
Was soll die Opposition jetzt tun?
In Georgien mehren sich die Stimmen, die meinen, die Opposition solle sich auf die Kommunalwahlen im nächsten Jahr konzentrieren und sich entsprechend vorbereiten. Die Mehrheit in den größeren Städten zu erreichen, ist ein sehr realistisches Ziel. Dazu gehört auch die Entwicklung eines klaren Konzepts für die Russlandpolitik. Nur dagegen zu sein reicht nicht aus.
Hat sich Russland in die georgischen Parlamentswahlen eingemischt?
Anders als in der Republik Moldau, wo mit rund 100 Millionen Euro Wähler bestochen worden sein sollen, um die prorussische Opposition zu unterstützen, ist das in Georgien anders. Hier sind „Russlands Freunde“ an der Regierung und versorgen die Bevölkerung mit falschen Informationen. Dennoch übt Russland Einfluss aus. Laut dem bulgarischen Investigativjournalisten Hristo Grotsev haben sich beispielsweise russische Geheimdienste in strategisch wichtige IT-Infrastrukturen der georgischen Regierung gehackt, darunter auch in die Zentrale Wahlkommission.
Einige befürchten, dass Georgien unter dem KO auf dem besten Weg ist, ein weiteres Weißrussland zu werden. Wie real ist diese Gefahr?
So weit ist es noch nicht. Glücklicherweise hat die KO ihr erklärtes Wahlziel einer Mehrheit für eine Verfassungsänderung deutlich verfehlt (113 von 150 Sitzen). Daher kann er entgegen der Ankündigung weder die Oppositionspartei Vereinigte Nationalbewegung (ENM) des ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili verbieten noch das „LGBTQ+-Propagandagesetz“ in die Verfassung aufnehmen. Dennoch ist zu befürchten, dass die KO weiterhin gegen Nichtregierungsorganisationen, Oppositionsparteien und unabhängige Medien vorgehen und Universitäten unter Druck setzen wird.
Was können wir von westlichen Ländern erwarten?
Im Dezember 2023 erhielt Georgien den EU-Kandidatenstatus. Doch weil sich die KO von der EU abgewandt hat, liegen die Beitrittsverhandlungen derzeit auf Eis. Brüssel verweist immer wieder auf das „Agenten“- und „Anti-LGBTQ+-Gesetz“. Wenn man den Jahresbericht der EU-Kommission zur Erweiterungspolitik liest, der Mitte dieser Woche in Tiflis vorgestellt wurde, dürfte das vorerst so bleiben. Und es könnte noch schlimmer kommen: Wenn die KO ihren politischen Kurs fortsetzt, könnte die EU die Visumfreiheit für Georgier abschaffen. Dies gilt seit 2017.
http://www.taz.de/FAQ-zu-Georgien-nach-der-Wahl/!6044625/