
Die Türkei verfolgt in Syrien harte Machtinteressen. Angesichts der aktuellen Eskalation des Bürgerkriegs wagt auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Kraftprobe mit Kremlchef Wladimir Putin. Die Hintergründe.
Manchmal kann man Sicherheitspolitik und die Frage von Krieg und Frieden mit einem Dominospiel vergleichen. Wenn ein Stein instabil wird und umfällt, droht er auch andere Steine zu treffen.
Im Nahen Osten war der Terroranschlag der Hamas gegen Israel im Oktober 2023 der erste Dominostein, der umgeworfen wurde, und löste eine Eskalationskette in der gesamten Region aus. Israel griff die Terrororganisation im Gazastreifen an und forderte Zehntausende Todesopfer. Die libanesische Hisbollah-Miliz hat den Norden Israels angegriffen und seit September 2024 kämpft die israelische Armee auch im Libanon. Doch es drohen weitere Steine umzufallen. Der Flächenbrand im Nahen Osten breitet sich weiter aus.
Nun kommt es im syrischen Bürgerkrieg erneut zu massiven Kämpfen. Einer Koalition verschiedener Milizen, darunter auch Islamisten, ist es in den vergangenen Tagen gelungen, die Armee des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu überraschen. Die Millionenstadt Aleppo ist bis auf wenige Gebäude fast vollständig von der Opposition erobert und ihre Kämpfer rücken in Richtung Hama und Homs vor. Wenn Assad diese Städte verliert, könnte das Regime zusammenbrechen. Einen Überblick über die militärische Lage finden Sie hier.
Seit 2011 tobt der syrische Bürgerkrieg. Doch es handelt sich nicht nur um einen Konflikt zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb Syriens, sondern um einen blutigen Stellvertreterkrieg. Das Land ist seit langem ein Spielfeld für Groß- und Regionalmächte: Sie bewegen die Figuren und bestimmen maßgeblich mit, ob und mit welcher Intensität es zu Kämpfen kommt. Die Opposition, Diktator Assad oder die kurdischen Milizen sind letztlich die Schachfiguren in einem viel größeren Machtkampf.
In Syrien könnte ein möglicher Waffenstillstand daher nur am Tisch mit den Mächten Türkiye, Russland und Iran ausgehandelt werden. Die Türkei ermöglichte die aktuelle Eskalation, indem sie der Opposition grünes Licht für die Offensive gab. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in den Rücken gefallen, weil er sich betrogen fühlt und die aktuelle Eskalation als Strafe für die Arroganz seiner Gegner sieht.
Die türkische Führung unter Erdoğan versteht sich als Regionalmacht in der Tradition des Osmanischen Reiches und reagiert derzeit vor allem auf die Schwäche anderer Regionalmächte. Das syrische Regime ist Teil der „Achse des Widerstands“ Irans gegen Israel, zu der auch die Hisbollah, schiitische Milizen im Irak und die Huthi-Rebellen im Jemen gehören.
Doch fast alle dieser Gruppen wurden in den letzten Monaten extrem geschwächt. Die Hisbollah-Führung wurde von Israel eliminiert, Iran befürchtet Angriffe aus Israel und den USA und auch Irans Verbündeter Russland zog Truppen aus Syrien ab, weil Putin sie im Ukraine-Krieg brauchte.
So veränderte die Schwäche von Assads Verbündeten die Machtverhältnisse in Syrien. Die Eskalation war absehbar, doch Damaskus reagierte relativ arrogant auf Gerüchte, die es zuvor in Syrien gegeben hatte. Assad nahm die Situation nicht ernst und verkürzte in den letzten Jahren den Militärdienst in seiner Armee, demobilisierte paramilitärische Gruppen und setzte alliierte Warlords ab, weil diese in seinen Augen zu mächtig wurden. All das sind die Gründe für die überraschenden militärischen Erfolge der Opposition.
Aber eines ist klar: Ohne Erdoğans Unterstützung wäre diese Offensive nicht möglich gewesen. Das von Islamisten dominierte Oppositionsbündnis Haiʾat Tahrir ash-Sham (HTS) ist nicht der Erfüllungsgehilfe der türkischen Führung. Doch die Opposition aus Idlib ist immer noch auf Nachschub über die türkisch-syrische Grenze angewiesen und Erdoğan konnte sie daher in der Vergangenheit gut kontrollieren, indem er mit der Schließung der Grenze drohte. Nun hat die HTS durchaus ein begründetes Interesse daran, die Assad-Streitkräfte anzugreifen, weil sie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Assad-Regime befürchtet.