Angesichts schwächelnder Elektroauto-Verkäufe hält der Lobbyverband ACEA die Elektrifizierung der Autoindustrie in der vorgegebenen Zeit derzeit für nicht umsetzbar – und fordert gelockerte CO2-Vorschriften. Doch das sehen in der Branche nicht alle so.
Europas Autogiganten schlagen Alarm: Wegen sinkender Verkaufszahlen von Elektroautos und mangelhafter Rahmenbedingungen hält der Lobbyverband ACEA den aktuellen Zeitplan zur vollständigen Umstellung der Hersteller auf Elektromobilität für nicht einzuhalten. Und er ruft die Politik zur Hilfe: Es seien „dringende Maßnahmen“ seitens der EU-Kommission nötig, um die aus Sicht des Verbandes zu strengen Klimaziele abzuschwächen und so die Existenzkrise der Branche abzuwenden.
Nächstes Jahr droht den Autobauern die Pleite: Ab 2025 treten in der EU neue Grenzwerte für den CO2-Ausstoß in Kraft. Im Schnitt dürfen Flotten dann nur noch 93,6 Gramm CO2 pro gefahrenem Kilometer ausstoßen, gemessen am Durchschnitt aller in einem Jahr in der EU zugelassenen Fahrzeuge. Doch es sieht so aus, als könne kaum ein Hersteller die Vorgaben erfüllen. Ihnen drohen nun entweder Milliardenstrafen, oder sie müssen die Produktion von Verbrennerautos drosseln, um die CO2-Ziele einzuhalten. Deshalb sollte die Politik mehr Zeit einräumen.
Millionen Arbeitsplätze sind gefährdet
Die nächste Überprüfung der Flottengrenzwerte für Pkw und Lkw ist erst für 2026 und 2027 vorgesehen. Doch die ACEA fordert, die Bewertung vorzuziehen und der Autoindustrie kurzfristig entgegenzukommen. Dem Verband gehören 15 der größten Hersteller Europas an, darunter Volkswagen, Daimler und BMW. Sie alle tun sich schwer, die Elektro-Umstellung zu vollziehen und die Vorgaben einzuhalten.
Der Markt für Elektroautos kennt derzeit nur eine Richtung: nach unten. Laut ACEA schrumpften die Neuwagenverkäufe im August im Vergleich zum Vorjahr um 18,3 Prozent. Die Nachfrage nach Elektroautos brach um 44 Prozent ein. In Deutschland brachen die Neuzulassungen von Elektroautos sogar um fast 70 Prozent ein. In Frankreich, dem zweitgrößten europäischen Markt, betrug der Rückgang rund 33 Prozent. Wird der Abwärtstrend nicht gebrochen, sehen die Aussichten auf die Einhaltung der neuen Grenzwerte im nächsten Jahr düster aus.
Für ACEA ist alles andere schuld, nur nicht die Industrie selbst: „Die anderen notwendigen Elemente für diesen Systemwechsel sind nicht vorhanden.“ Es fehle an Ladeinfrastruktur, bezahlbaren Strompreisen, Einkaufs- und Steueranreizen und einer sicheren Lieferkette für Batterien und Rohstoffe. Auch das Wirtschaftswachstum und das Vertrauen der Kunden in die Technologie seien nicht ausreichend entwickelt.
Die Autoindustrie sei von den sich zuspitzenden Krisen überfordert: „Die aktuellen Regeln berücksichtigen nicht die grundlegenden Veränderungen des geopolitischen und wirtschaftlichen Klimas der vergangenen Jahre“, kritisiert der Lobbyverband. In der Branche kursiert bereits ein Papier, in dem die Autobauer fordern, die neuen CO2-Grenzwerte um zwei Jahre zu verschieben, wie es VW-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch jüngst gefordert hatte. Andernfalls müssten bis zu acht Fabriken geschlossen werden. Und Millionen von Arbeitsplätzen abgebaut werden.
Nicht alle sehen die E-Auto-Revolution als düster an
VW und Co. hatten seit 2019 Zeit, die strengeren Vorgaben umzusetzen. Nicht alle teilen die Schwarzmalerei der ACEA. Etwa Europas zweitgrößter Autobauer Stellantis, der aus der Fusion von Fiat-Chrysler und PSA hervorgegangen ist und zu dem Opel gehört. Stellantis-Chef Carlos Tavares ist bei weitem nicht so pessimistisch: „Es wäre surreal, jetzt die Regeln zu ändern“, sagte er vergangene Woche. „Jeder kennt die Regeln seit langem, jeder hatte Zeit, sich vorzubereiten, und jetzt ist es Zeit für ein Rennen.“
Stellantis hat massiv in den Aufbau von Elektroauto-Kapazitäten investiert. Und ist Ende 2022 sogar aus dem Lobbyverband ACEA ausgetreten, weil es in der Branche Widerstände gegen die strengeren CO2-Vorgaben gab. Stellantis leidet zudem unter der Billigkonkurrenz aus China und der Abschaffung der Kaufprämie für Elektrofahrzeuge Ende vergangenen Jahres, die das Wachstum im Elektroauto-Markt bremsen. Doch anders als viele andere Auto-Schwergewichte hat der Konzern die schmerzhaften Einschnitte, die in Wolfsburg und anderswo noch kommen können, bereits vorgenommen.
Seit 2021 hat Stellantis im Zuge der Fusion seine Belegschaft in Europa um 20.000 Stellen reduziert, vor allem durch Abfindungen. „Wir haben in der jüngsten Vergangenheit viele unpopuläre Entscheidungen getroffen“, räumte Tavares am Dienstag ein. Man habe diese Entscheidung aber nur deshalb getroffen, „um zu vermeiden, wie Volkswagen zu enden.“