An jenem Freitagabend Ende Oktober stand Thomas Strobl vor 200 neuen Bewohnern auf der Bühne und machte eine Aussage, die in der hitzigen Debatte um Migration, Integration und das Merzer Stadtbild völlig ungewöhnlich klang. „In Deutschland kann man, wenn man in der Türkei geboren ist, oberster Hüter der Verfassung werden, und das ist gut so“, sagt der baden-württembergische CDU-Innenminister über den neuen Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen.
Der in Istanbul geborene Behördenchef kam im Alter von vier Jahren nach Deutschland und hatte eine lange Karriere beim Bundeskriminalamt, der Bundespolizei und dem Bundesinnenministerium. Seit dem 8. Oktober 2025 steht er an der Spitze der Behörde, die inländische Staatsfeinde bekämpfen soll, egal ob von rechts oder links, ob ethnisch oder religiös voller Hass.
Selen ist einer der vielen Söhne und Enkel türkischer Einwanderer, die sich in Deutschland nicht nur eine neue Heimat geschaffen haben. Die auch Spitzenpositionen erreicht haben und ein integraler und selbstverständlicher Teil aller Bereiche der Gesellschaft sind. Eine Entwicklung, die zeigt, wie oft Integration hierzulande gelungen ist – auch wenn es in letzter Zeit oft anders klang.
Seitdem Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erklärte, dass „dieses Problem im Stadtbild Deutschlands immer noch besteht“, wird heftig darüber debattiert, wer zu Deutschland gehört – und wer nicht. Die Debatte findet innerhalb der Regierungskoalition, zwischen den Parteien und auf allen Ebenen der Gesellschaft statt. Manche nennen es „Rassismus“, andere nennen es „Realität“. Doch können sich Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben und zum Wohlstand des Landes beitragen, hier noch wohlfühlen? In einem Land, das auch 60 Jahre nach der ersten Einwanderungswelle noch so kontrovers über Einwanderung spricht?
An diesem Freitagabend gab es nur lächelnde Gesichter. Glück. Stolz. Und eine Ankunft. Die Hauptdarsteller haben gerade die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Sie haben sich für die heutige Einbürgerungszeremonie schick gemacht. Inbrünstig schmettern sie die deutsche Nationalhymne. Die Botschaft von heute Abend: Wir sind in Deutschland angekommen. Wir sprechen hier nicht nur die Sprache und arbeiten. Wir stehen auch zu den Werten Deutschlands.
Einer von ihnen ist Sadik Varul. Der 71-Jährige kam 1977 aus Istanbul nach Deutschland. Erst 48 Jahre nach seiner Ankunft wurde er eingebürgert. Und das nicht, weil er erst heute die Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllt. Eher, weil Varul seinen türkischen Pass bis letztes Jahr hätte abgeben müssen.
Erst mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts wird es die Möglichkeit eines Doppelpasses geben. Ein Grund, warum Menschen vom Bosporus seitdem häufiger eingebürgert werden. Im Jahr 2024 nahmen 22.525 Türken die deutsche Staatsbürgerschaft an, ein Plus von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
„Ich kann endlich in dem Land wählen, in dem ich so lange gelebt habe“
Sadik Varul, 71
Varul gehört zu den Migranten, die nicht nur zum deutschen Wohlstand beigetragen haben, sondern auch ehrenamtlich tätig sind. „Nach meinem Umzug ins baden-württembergische Freudenstadt habe ich viele Jobs gemacht“, sagt Varul auf Deutsch mit kaum einem Akzent. „Ich habe in diesem Land mein eigenes Unternehmen gegründet, als Hausmeister und Schauspieler gearbeitet.“ Mittlerweile ist er im Ruhestand, hat aber immer noch kaum Freizeit. „Ich bin Mitglied in acht Vereinen und mache Kommunalpolitik für die SPD“, lacht er. Auch deshalb war ihm die deutsche Staatsbürgerschaft so wichtig. „Ich darf endlich in dem Land wählen, in dem ich so lange gelebt habe“, sagte ein erleichterter Varul.
Das soziale Klima bereitet dem Rentner noch immer Sorgen. „Der Satz von Merz über das Stadtbild war nicht gut. Er hat das Land dadurch gespalten, das sollte ein Bundeskanzler nicht tun“, sagt Varul. Er kritisiert, dass Parteien versuchen, Wahlen auf dem Rücken von Migranten zu gewinnen. Damit rückt die Tatsache in den Hintergrund, dass Einwanderer für den deutschen Arbeitsmarkt unverzichtbar sind. „Deutschland wird ohne Ausländer zusammenbrechen.“
Migranten sind für die Wirtschaft unverzichtbar
Tatsächlich ist der deutsche Arbeitsmarkt seit Jahrzehnten auf Ausländer angewiesen. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren schloss die Bundesrepublik Abkommen mit mehreren europäischen und außereuropäischen Ländern ab. Zwischen 1955 und 1973 kamen rund 14 Millionen Gastarbeiter nach Deutschland, hauptsächlich aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei und Marokko. Heute haben 54 Prozent der Köche und Arbeiter in der Lebensmittelproduktion einen Migrationshintergrund. Jeder zweite Bus- und Straßenbahnfahrer hat einen Migrationshintergrund.
Varul, der sich in vielerlei Hinsicht für seine neue Heimat einsetzt, ist der Beweis dafür, dass die deutsche Staatsbürgerschaft auch eine Anerkennung einer Lebensleistung für dieses Land bedeuten kann. Vor allem CDU und CSU machten im Bundestagswahlkampf gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz mobil. Aus ihrer Sicht „verkaufen“ die kürzere Einbürgerungsfrist und das Prinzip der Mehrfachstaatsangehörigkeit den deutschen Pass. Als eine der ersten Amtshandlungen der neuen Bundesregierung hat die schwarz-rote Koalition die Möglichkeit der sogenannten „Turbo-Einbürgerung“ abgeschafft. Ein Ausnahmefall, der für besonders engagierte und integrierte Einwanderer eine Einbürgerung nach dreijährigem Aufenthalt in Deutschland vorsah.

Hyat ist unter den Feiernden. Die derzeitige Zahnarzthelferin floh 2015 aus Damaskus, um der Tyrannei von Diktator Baschar al-Assad zu entkommen. „Heute ist ein großer Tag der Freude für mich“, sagt sie. „Als ich den Asylstatus hatte, fühlte ich mich ein wenig wie im Gefängnis, weil ich Deutschland nicht verlassen durfte. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist für mich ein Gefühl der Freiheit.“ Im Sommer reiste sie zum ersten Mal nach Damaskus, um ihre Familie zu besuchen – zehn Jahre nach ihrer Flucht nach Deutschland.
„Eine Patientin fragt mich immer, wenn sie mich sieht, wann ich endlich zurückgehe.“
Hyat
Als sie 2015 als eine der wenigen Frauen, die die Flucht wagten, nach Deutschland kam, stieß sie auf viele bürokratische Hürden. Da Hyat zunächst nicht als Asylbewerberin anerkannt wurde, begab sie sich für ein halbes Jahr in ein Kirchenasyl, um der drohenden Abschiebung zu entgehen. Erst mit der Hilfe von Norbert Kaiser gelang es ihr, in Deutschland Fuß zu fassen. Der Ehrenamtliche aus Kißlegg bei Ravensburg engagiert sich seit langem in der Betreuung von Migranten und berät in Fragen des Asylverfahrens. „Kein Flüchtling in Deutschland schafft es, mit den Behörden klarzukommen“, sagt er. Hyat kann das bestätigen: „Ohne Herrn Kaiser hätte ich das nie geschafft.“
Kaiser half ihr, eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu bekommen. Sie lernte schnell Deutsch und machte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Heute arbeitet sie in einer Praxis in Kißlegg. Bis heute fühlt sie sich nicht ganz eingelebt.
„Eine Patientin fragt mich immer, wenn sie mich sieht, wann ich endlich zurückkomme“, sagt sie. Hyat hat immer das Gefühl, dass er von der Mehrheit der Gesellschaft nicht gemocht wird. Dies liegt auch daran, dass einzelne Migranten sich nicht integrieren wollen und zu Kriminellen werden. „Ich denke, jeder, der ein Krimineller ist und nicht arbeitet, sollte gehen“, sagt Hyat.
Entkommen Sie der Todesstrafe
Der Großteil der Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen, hat sich inzwischen integriert. Mittlerweile sind 76 Prozent der Männer berufstätig. Das bedeutet, dass die Beschäftigungsquote der geflüchteten Männer nahezu gleich hoch ist wie die der Männer in der Mehrheitsgesellschaft. Unter den Frauen haben nur 35 Prozent einen Job. Dies liegt oft daran, dass sie für die Kindererziehung verantwortlich sind oder in Berufen arbeiten, die Anerkennung erfordern – als Erzieher oder Lehrer. So gesehen ist Hyat eine Ausnahme.
Saeid Fazloula hat auch seine eigene persönliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Der 33-jährige Spitzensportler floh 2015 aus dem Iran nach Deutschland. In seiner islamischen Heimat drohte ihm die Todesstrafe, weil er zum Christentum konvertierte.
Er setzte seine Sportkarriere in Deutschland fort. Fazloula nahm als Kanurennfahrerin an den Olympischen Sommerspielen 2020 und 2024 für das Refugee Olympic Team teil. „Wir, die wir zu Deutschland gehören wollen, sind die Mehrheit“, sagt er. Heute möchte er die Hilfe, die er als Flüchtling erhalten hat, zurückgeben. In Karlsruhe arbeitet er als Sport- und Fitnessmanager.
Vielleicht sind gerade diese Erfolgsgeschichten von Migranten zu sehr in Vergessenheit geraten. Vielleicht sind es die Integrationsbeispiele, die zu unsichtbar geworden sind, weshalb Deutschland die Einwanderungsdebatte weiterhin so zurückhaltend und so absolut hält.
Zwischen bedingungsloser Flüchtlingseuphorie und absoluter Fremdenfeindlichkeit wird der Raum immer enger für diejenigen, die hier eine Heimat gefunden haben: die schweigende Mehrheit der Migranten.
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