„Wir zeichnen so etwas wie die Fieberkurve der Gesellschaft“, sagt Journalistikprofessor Thomas Hestermann zu seiner aktuellen Analyse „Kriminalität und Migration: Das Bild in den deutschen Medien“. Seit 2007 wird untersucht, ob und in welchem Zusammenhang über die Herkunft von Tatverdächtigen in Gewaltkriminalität berichtet wird.
Im Jahr 2014 spielte die Herkunft kaum eine Rolle
Hestermanns Team von der Hochschule Macromedia in Hamburg hat die Erkenntnisse für das Jahr 2025 für den Berliner „Mediendienst Integration“ aufbereitet. Das am Freitag veröffentlichte Ergebnis ist besorgniserregend: „Ausländische Tatverdächtige werden etwa dreimal so häufig genannt wie ihr Anteil in der Polizeistatistik.“ (siehe Grafik) Der Wert sei noch nie so hoch gewesen, betont der Medienforscher und verweist auf das Jahr 2014, als die Herkunft in der Berichterstattung kaum eine Rolle spielte.
Ein Jahr später kamen rund eine Million Menschen nach Deutschland. Mehr als ein Drittel floh vor dem Bürgerkrieg in Syrien, ein Fünftel kam aus Albanien und dem Kosovo. Seitdem stellt Hestermann eine „drastische Verzerrung“ in den deutschen Medien beim Thema Kriminalität und Migration fest.
„Wie verändert sich die Wahrnehmung von Gewalt?“
Die Berichterstattung hat Konsequenzen, weil die meisten Menschen Gewaltkriminalität nur aus den Medien kennen und sich ein eigenes Bild machen: „Wie gefährdet bin ich eigentlich? Wer stellt eine Gefahr dar?“ Die Fragen, die Hestermann in diesem Zusammenhang aus wissenschaftlicher Sicht stellt, klingen ähnlich: „Wie verändert sich die Wahrnehmung von Gewalt? Wie verändert sich der Blick auf die Tatverdächtigen und ihre Herkunft?“
Die von ihm beobachteten unterschiedlichen Reaktionen beschreibt der ehemalige Journalist am Beispiel zweier Anschläge in München und Mannheim im Jahr 2025: „München: Ein junger Afghane fährt vermutlich in eine Menschenmenge und tötet zwei Menschen. Kurz darauf in Mannheim: Ein Deutscher fährt ebenfalls in eine Menschenmenge und tötet zufällig zwei Opfer. Demonstration in München, Zurückhaltung in Mannheim.“
Ausländische Tatverdächtige wurden doppelt so häufig angezeigt
Und was passiert in den Medien? Der öffentlich-rechtliche Sender ARD strahlt in der Hauptsendezeit eine „Brennpunkt“-Spezialsendung zum Anschlag in München aus, nicht jedoch zum Anschlag in Mannheim. Insgesamt gab es in deutschen Fernsehsendungen und Zeitungen doppelt so viele Berichte über die Straftat mit dem ausländischen Tatverdächtigen.
Warum ist das so? Hestermann kennt journalistische Reflexe aus langjähriger persönlicher Erfahrung als Reporter und Moderator bei öffentlich-rechtlichen und privaten Radio- und Fernsehsendern. Entscheidungen würden oft intuitiv getroffen, basierend auf dem Bauchgefühl, sagt er. Das geschieht oft unbeabsichtigt, wie er aus Gesprächen bei Redaktionsbesuchen weiß. Aber: „Viele intuitive Entscheidungen werden zu einem Berichterstattungsmuster, das einer rechtspopulistischen Agenda folgt.“
„Die Berichterstattung ist insgesamt diskriminierend“
Dem ehemaligen Journalisten ist es wichtig, als Wissenschaftler nicht als Besserwisser zu wirken. Es wird oft gesagt, dass linksgrüne Journalisten eine rosarote Brille tragen und nur positiv über Migration berichten. Das stimmt aber überhaupt nicht: „Denn die Berichterstattung ist insgesamt diskriminierend.“
Als Belege zum Thema Kriminalität nutzt er Erkenntnisse aus den einwöchigen Medienanalysen von Januar bis April 2025. In diesem Zeitraum wurden 168 TV-Beiträge über Gewaltkriminalität in Deutschland mit 146 Tatverdächtigen und 330 Zeitungsartikel mit 263 Tatverdächtigen untersucht. Hestermann konnte keine signifikanten Unterschiede feststellen, obwohl die redaktionelle Ausrichtung sehr unterschiedlich ist.
Ein konservatives Medium berichtet ähnlich wie ein linkes
Das gilt für öffentlich-rechtliche und private TV-Sender ebenso wie für Print- und Onlinetexte: „Wir haben festgestellt, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Zeitungen wie die handelt.“ Welt und die taz „Im Untersuchungszeitraum wurden nur ausländische Tatverdächtige genannt, wenn die Herkunft überhaupt eine Rolle spielte“, schlussfolgert Hestermann. Der Medienforscher gibt zu, dass ihn das verblüfft. Um es ins rechte Licht zu rücken: Die Welt verfügt über ein stark rechtskonservatives Profil, das genossenschaftlich organisiert ist taz wird vor allem im linksgrünen Milieu gelesen.
Die Kriminologin und Soziologin Gina Wollinger bezeichnet die mediale Verzerrung als „Migrationisierung“ der Kriminalität. Dabei geht es um eine völlige Überbetonung der Kultur. „Eine Kategorie, die meiner Meinung nach nur verwendet wird, wenn es um nichtdeutsche Täter geht. Plötzlich stellt sich die Frage: Hat das etwas mit Kultur zu tun?“ kritisiert der Professor von der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.
„Es ist nicht der Pass oder die Nationalität“
Wollinger betont, dass Kriminalität grundsätzlich nichts mit der Herkunft zu tun habe: „Es ist nicht Ihre Migrationsgeschichte, es ist nicht Ihr Reisepass oder Ihre Nationalität. Vielmehr sind es bestimmte Risikofaktoren, die vor allem aus den Bereichen Armut, Perspektivlosigkeit und eigener Gewalterfahrung stammen.“ Und wenn man das berücksichtigt, sieht man keine Unterschiede zwischen Menschen mit und solchen ohne Migrationshintergrund.
Und wie ließe sich das Ungleichgewicht in der Berichterstattung ändern? Der Medienforscher Thomas Hestermann weiß aus seiner Zeit als Journalist, dass Sprachbarrieren bei der Migrationsberichterstattung oft zum Scheitern führen können. „Deshalb ist es wichtig, dass auch die Redaktionen bunter werden. Dass junge Menschen, die in anderen Kulturen aufgewachsen sind, die Redaktionen bereichern.“