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Hochöfen an der Nordseeküste (IJmuiden, Niederlande)
Eine Demonstration zieht durch die Stadt zum Marktplatz. Aus straßenweiten Bannern wickeln die Teilnehmer eine mehrteilige Leiter ein und lehnen diese an das Rathaus. Einer von ihnen klettert hinauf und befestigt ein riesiges Banner mit den zentralen Forderungen der Kundgebung an der Fassade. Der Stoff hängt dort tagelang.
Heute wäre so etwas ohne staatliches Eingreifen wohl undenkbar – in Bremen ereignete sich das allerdings schon vor gut 40 Jahren so: Am 28. Oktober 1984 beendete dasselbe Rathausplakat in der Hansestadt einen Kongress, auf dem Mehr als 750 Meeresumweltschützer aus mehreren Nordseeanrainerstaaten hatten sich versammelt. Anlass des Treffens mit dem Titel „North Sea Action Conference“ (AKN) war die drei Tage später geplante Internationale Nordseeschutzkonferenz (INK) der Regierungen Belgiens, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemarks, Frankreichs, Großbritanniens, den Niederlanden, Norwegen und Schweden sowie Delegierte der Brüsseler EG-Kommission.
In den 1970er und 1980er Jahren war die Seekrankheit ein Dauerthema in der Bundesrepublik Deutschland und Nordwesteuropa. Das Interesse der Medien galt vor allem der Nordsee, denn in diesem Randmeer des Nordatlantiks häuften sich die Symptome anthropogener Rücksichtslosigkeit. Auch über die Ostsee gab es Debatten, die allerdings deutlich schwächer ausfielen.
Spektakuläre Tankerunfälle, die rücksichtslose Entsorgung giftiger und unbehandelter Abwässer über Flüsse ins Meer, die Verbrennung chemischer Abfälle in Seen, die Verklappung von Baggergut und andere Fehlverhalten kontaminierten Flora und Fauna führten zu pathologischen Veränderungen in den Fischbeständen und einem drastischen Rückgang der Bestände. Gigapläne für Industrieansiedlungen in Küstennähe führten zu ökologischen und sozialen Konflikten. In einem AKN-Flugblatt hieß es, dass die Schäden an der Nordsee und die hohen Arbeitslosenquoten in der Küstenregion dieselbe Ursache hätten: Wirtschaftstätigkeit ohne Rücksicht auf Mensch und Natur.
5 Minuten vor 12
1980 hatte der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesrepublik Deutschland das Buch gelesen: In einem 500-seitigen „Sondergutachten“ beschrieben die Forscher in einem Datenblatt die „Umweltprobleme der Nordsee“. Sammlung, die damals als herausragend galt. Der Wälzer gipfelte in der kurzen, aber prägnanten Formulierung, dass es für die heimischen Meere ökologisch „5 Minuten vor 12“ sei.
Die Politik reagierte hilflos und zögerlich: Statt zu handeln, wurden zunächst die Nordsee-Anrainerstaaten zu einer Konferenz nach Bremen eingeladen, und zwar die für den Umweltschutz zuständigen Ministerien. Allerdings verfügten nur sehr wenige Regierungen darüber, nicht einmal in der Bundesrepublik Deutschland. Belange des Meeres- oder Küstenschutzes wurden hier oder da gemeinsam verwaltet: Die Landwirtschaftsabteilungen waren in der Regel für die Fischerei zuständig, während die Wirtschaftsabteilungen für die Schifffahrt, die Transportabteilungen, Häfen oder die Küsteninfrastruktur zuständig waren. Obwohl westdeutsche Politiker im Vorfeld ihren großen Durchbruch in Richtung Meeresumweltschutz feierten, erwies sich das INK-Instrument – das Fischerei, Schifffahrt und Infrastruktur ausdrücklich ausschloss – von Anfang an nicht nur als stumpfes, sondern als gebrochenes Schwert.
Sobald klar wurde, dass diese INK nur besänftigen, aber nichts wirklich verändern würde, formierte sich Widerstand. Überall in Westeuropa begann eine Zeit teils gewaltsamer Konflikte zwischen Herrschern und „Zivilgesellschaft“. In der Bundesrepublik Deutschland mobilisierten Bürgerinitiativen gegen umstrittene Industrieprojekte, Elbfischer blockierten den Fluss, Greenpeace und lokale Gruppen verhinderten die Verklappung von verdünnter Säure im Meer, spektakuläre Aktionen richteten sich gegen Hafenerweiterungen von Emden bis Hamburg, Bürgerkrieg- wie Schlachten und brutale Küstenbebauung wüteten rund um die Atomkraftwerksbaustellen in Brokdorf und anderswo, Landgewinnung löste Demonstrationen aus: der Heiligenschein, der die Industrialisierung der Nachkriegsbundesrepublik Deutschland erstrahlen lassen sollte, inklusive des sogenannten „Wiederaufbaus“. „, brach ökologisch und sozial zusammen.
Um politisch gegen die geplante INK zu mobilisieren, schlossen sich mit dem Meeresschutz befasste Naturschutzverbände der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Nachbarländer in Bürgerinitiativen zusammen, die – für 1984 durchaus sensationell – sogar Unterstützung von DGB-Gewerkschaften erhielten der Bundesrepublik Deutschland. In einem markanten Zehn-Punkte-Programm formulierte das Bündnis radikale Forderungen, die in dem Appell an die INK gipfelten, „diese zum Maßstab ihrer Politik zu machen – oder öffentlich zu erklären, warum sie dazu nicht bereit sind“. Niemand erwartete ernsthaft, dass die INK sich daran halten würde. Allerdings kam die Aktion in der Öffentlichkeit gut an, weil der unbeliebte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) als INK-Organisator schon früh konfrontativ agierte: Er verweigerte den Gesprächen mit Initiativen, düpierte Umweltverbände und rügte sogar renommierte Forscher öffentlich wegen Kritik Kommentare.
Von dieser Atmosphäre profitierte die „North Sea Action Conference“. Hunderte engagierte Menschen aus dem In- und Ausland versammelten sich zwei Tage lang und erweiterten in intensiven Diskussionen das Zehn-Punkte-Programm zu einem fundierten „Nordsee-Memorandum“, das drei Tage später offiziell dem INK übergeben wurde. Es enthielt teilweise bahnbrechende Forderungen nach einem Schutzansatz für Meer und Küste, die jedoch kurzfristig kaum umgesetzt wurden.
Unverbindlich
Zwei Tage lang diskutierte die Ministergruppe teils recht hitzig. Das Ergebnis war mehr als langweilig, denn die Medien kommentierten das Abschlussdokument mit dem Titel „Erklärung“ als „einen Sammelsurium unverbindlicher Erklärungen, die (…) niemandem schaden“. Schon damals war die europäische Politik von nationalem Egoismus geprägt: Niemand gab seine eigenen Positionen im Streit auf, es wurde gefeilscht, bis alle einverstanden waren. Als herausragendes Ergebnis feierte Zimmermann, dass „zum ersten Mal alle an einem Tisch saßen“. Zwei Tatsachen kennzeichneten letztlich das politische Scheitern: Erstens war die „Erklärung“ völkerrechtlich nicht bindend und hatte daher nur Berufungscharakter. Andererseits wurde in einer Klausel festgelegt, dass vereinbarte Maßnahmen nur dann durchgeführt werden sollten, wenn sie „wirtschaftlich vertretbar“ seien – der vermeintlich beabsichtigte Meeresumweltschutz blieb dem Vorrang der Ökonomie unterworfen.
Ein Vergleich der INK-„Erklärung“ und des AKN-„Nordsee-Memorandums“ im Detail und aus technischer und politischer Sicht wäre zu umfangreich und vor allem nicht mehr relevant. Daher soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Bedeutung der beiden Konferenzen im Jahr 1984 für die Entwicklung der deutschen und europäischen Meerespolitik zumindest kurz darzustellen.
Zunächst einmal: Das AKN-Bündnis zerfiel bald nach seinem Ende – zunächst die Achse Naturschutz-Gewerkschaft, dann auch die der Verbände und Initiativen untereinander. Soweit es sie weiterhin gibt, arbeiten sie heute oft in loser Form zusammen, beispielsweise in Arbeitsgruppen beim Environment & Development Forum (FUE) oder international in der Allianz Seas at Risk (SAR). 1985 gründete die Koordinierungsgruppe, die den AKN-Kongress organisiert hatte, einen eigenen Verein unter demselben Namen, der sich 25 Jahre lang unabhängig oder gemeinsam mit anderen für den Meeresschutz einsetzte. Dieser Verein wurde 2010 aufgelöst.
Das Regierungsinstrument INK bestand weitere 22 Jahre, weitere Treffen fanden in London (1987), Den Haag (1990), Esbjerg (1995), Bergen (2002) und Göteborg (2006) statt. Obwohl sie einige bahnbrechende Impulse lieferten, wurden sie nie sofort umgesetzt: INK-Erklärungen blieben unverbindlich – und ausdrücklich dem Primat der Ökonomie unterworfen. Lediglich der Druck der Zivilgesellschaft sorgte gelegentlich für eine politische Wirkung in anderen Strukturen. Im Jahr 1995 ging es beispielsweise um die Chemikalienpolitik, die dann in der EU-REACH-Verordnung mündete. Andere INK-Ergebnisse hatten – einige Jahre später – Einfluss auf Entscheidungen der UN-Schifffahrtsorganisation IMO oder in der EU-Fischereipolitik. Generell gilt, dass spätestens seit 1995 zunächst die Organisation OSPAR für den Nordostatlantik und dann die EU-Kommission selbst die Meerespolitik selbst in die Hand und unter Kontrolle nahmen.
„Schutz durch Nutzung“ – heute ist fast alles mit dem heuchlerischen Etikett „nachhaltig“ behaftet. Einige Forderungen aus dem Jahr 1984 sind immer noch ungelöst, viele neue Belastungen sind hinzugekommen (Plastikmüll, Offshore-Industrialisierung) – und weitere (CCS, Tiefseebergbau) drohen. Die (globale) Meeresumwelt ist auch 40 Jahre später immer noch in Gefahr.
https://www.jungewelt.de/artikel/487238.meeresschutz-der-ökonomie-unterworfen.html
