Ein Fairnessabkommen soll im Wahlkampf alles besser machen. Man kennt das aus der Schulzeit: Nur Klassen, in denen sich die Schüler besonders danebenbenehmen, müssen Verhaltenskataloge aushandeln und an die Wand pinnen.
Die beteiligten Parteien (SPD, CDU, CSU, Grüne, FDP und Linke) wollen im Wahlkampf fair miteinander umgehen. Sie versichern einander, auf persönliche Herabwürdigungen zu verzichten, sich extremistischen Äußerungen entgegenzustellen und gegen Desinformation vorzugehen. Den obersten Störenfried, die AfD, haben sie – anders, als es wohl Schulklassen machen würden – nicht einbezogen. Und das BSW wollte nicht.
Tatsächlich gibt der Ton, den Spitzenpolitiker und allen voran Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Parlament und andernorts zuletzt angeschlagen haben, zu denken.
Schmissige Reden werden wahrgenommen
Zumindest für Parlamentsdebatten darf man jedoch geltend machen, dass es dort noch nie allein um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments ging, sondern vor allem darum, die Reihen hinter sich zu schließen und den politischen Gegner anzugreifen. Das ermöglicht den Meinungsbildungsprozess erst. Ein Wähler muss schließlich wissen, wer wofür steht.
Hinzu kommt, dass die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie schmissige Reden belohnen, weil sie einen gewissen Unterhaltungswert haben. Das kann man gut oder schlecht finden, in jedem Fall hat es den Effekt, dass politische Auseinandersetzungen wahrgenommen werden.
Wer fragt, ob der Ton im Parlament nicht nur wegen der Einlassungen vom rechten Rand insgesamt rauer geworden ist, sei an zweierlei erinnert. Zum einen ist die Versuchung, politische Gegner persönlich zu diskreditieren, mindestens so alt wie die Bundesrepublik.
Und zum anderen hat sich die deutsche Öffentlichkeit vermutlich zu sehr an die lähmende Einmütigkeit aus der Zeit großer Koalitionen unter Angela Merkel gewöhnt. Wer aber würde sich wünschen, dass alles wieder in einer alternativlosen Mitte verschwimmt?
Nichtsdestoweniger stellen sich nach den persönlichen Angriffen der vergangenen Wochen Fragen allein schon aus dramaturgischen Gründen. Wie wollen sich die politischen Gegner denn noch steigern in den Fernsehduellen und in der heißen Phase des Wahlkampfs?
Vorwürfe und verbale Attacken
Es fing mit dem Scheidungsbrief des Bundeskanzlers an seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) an, dem er Egoismus vorwarf. Zu oft habe Linder sein Vertrauen gebrochen.
Später trat der Kanzler in der Aussprache zur Vertrauensfrage im Bundestag nach. Er warf der FDP „wochenlange Sabotage“ und Lindner persönlich mangelnde sittliche Reife vor. Am selben Tag ätzte Scholz abends im Fernsehen dann noch gegen den Oppositionsführer. „Fritze Merz“ erzähle „Tünkram“, also Unsinn.
Nun könnte Scholz zu seiner Verteidigung sagen: Die anderen haben angefangen. Der eine – Christian Lindner – habe ihn hinters Licht geführt, und der andere – Friedrich Merz – habe ihn im Bundestag provoziert. Der hatte die Anekdote zum Besten gegeben, dass einer der Staats- und Regierungschefs aus der Europäischen Union Scholz beim Europäischen Rat aufgefordert habe, doch mal etwas zu sagen. Der Kanzler habe bloß geantwortet: Nö, du hast ja auch nichts gesagt. Merz nannte das peinlich, zum „Fremdschämen“.
Die Rede von der Scham
Es war der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der in jener Aussprache zur Vertrauensfrage für Würde und Anstand warb. Doch auch er, der so präsidial zu sprechen begonnen hatte, teilte am Ende selbst gegen Lindner aus, als gäbe es kein Morgen. Seine Kritik an der Wortwahl der FDP in ihrem „D-Day-Papier“ gipfelte in dem Satz: „Schämen Sie sich eigentlich nicht dafür, Herr Kollege Lindner?“
Der Logik, dieserart zu streiten, würde es entsprechen, ein ins Persönliche gehendes Plädoyer für mehr Anstand zu halten. Es würde – wie im Hohen Haus vorgelebt – an die politischen Schamgefühle appellieren. Helfen würde es der Demokratie aber nicht. Denn die lebt, um ein viel bemühtes Wort zu zitieren, vom Streit. Der sollte stets, auch wenn es nicht immer sachlich zugeht, auf die Sachebene zielen.
Das ist auch der Grund, warum die Rede von der Scham in der politischen Debatte meistens nichts verloren hat und für Fehlverhalten reserviert bleiben sollte, das wirklich dazu geeignet ist, den Anspruch auf Achtung zu verlieren.
Die Wähler haben es in der Hand, ihre Schlüsse aus dem Wahlkampf zu ziehen. Nach der Wahl werden einige der Konkurrenten Koalitionspartner finden müssen. Niemand verlangt von ihnen ein Selfie und eine verheißungsvolle Erzählung.
Bürgerliche Umgangsformen genügen. Gegenseitiger Respekt, Ehrlichkeit und Verbindlichkeit wären ein Anfang. Denn fürs Bündnisse-Schmieden gilt dieselbe Grundregel wie fürs Debattieren: Es muss nicht ins Persönliche gehen.