Der tiefe Staat gegen „la France profonde“: Das Duell geht weiter

Der tiefe Staat gegen „la France profonde“: Das Duell geht weiter

Tatsächlich war es bei den französischen Wahlen ein „Gerichtsverfahren“ zwischen Macron, Le Pen und Mélenchon. Interessanterweise war es am Ende die Linksunion, die sich selbst aus dem Spiel nahm, indem sie mit Macron mitspielte. Die französische Firewall wird Konsequenzen haben.

Tiefer Staat gegen tiefes Frankreich – das ist das Duell, das sich derzeit in der französischen Politik abspielt. Der Rassemblement national (RN) hat de facto drei nationale Wahlen in Folge gewonnen, wenn auch mit unterschiedlichen Konsequenzen. Bei der EU-Wahl gab es außerhalb von Paris kaum eine Kommune, in der der Rassemblement national nicht die Mehrheit der Stimmen errang. Insgesamt erhielt der RN hier 31,4 Prozent, auf Platz zwei die macronistische Fünfparteienliste „Besoin d’Europe“ mit 14,6 Prozent, auf Platz drei die sozialistische Zweiparteienliste „Réveiller l’Europe“ mit 13,8 Prozent.

Man könnte dies als eine bedeutungslose Testwahl abtun, bei der die Wähler gerne aus Protest ihre Stimme abgeben, aber anscheinend meinen sie es nicht wirklich ernst. Aber warum sollten Linke und Macron-Zentristen die EU, die sie so verehren, ignorieren, während die nationalistischen Geister des RN damit beschäftigt sind, sich auf den Weg zu den Wahlen zu machen? Das ist schwer zu erklären.

Nehmen wir also an, diese Wahlen zum EU-Parlament waren ein ernstzunehmendes demokratisches Signal, nur eben eines, das auf EU-Ebene stattfand. Es waren Wahlen für ein sogenanntes „Europäisches Parlament“, dessen wahre Funktion vermutlich nur sehr wenigen Wählern unklar ist. Da diese Funktion aber nur darin besteht, Vorschläge der Kommission abzusegnen, ist dieser Mangel an Wissen nicht so wichtig oder gar schwerwiegend.


Liste mit den meisten Stimmen bei den EU-Wahlen, nach Gemeinde. Dunkelblau: Rassemblement national (RN). Rot: Linke Parteien (PC, PS, Grüne, LFI). Lila: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains (Quellen: Französisches Innen- und Überseeministerium, IGN, ISPF, INSEE; France Info)

Die EU-Wahl gibt den europäischen Völkern, darunter auch den Franzosen, die Möglichkeit, ihre politischen Ansichten ungefiltert zu äußern. Während man in der nationalen Politik das Gefühl hat, tausend Dinge berücksichtigen zu müssen und in ein dichtes Geflecht von Mentalitäten, Ansichten und Freundschaften eingebettet ist, befreit der Aufruf zur EU-Wahl den einzelnen Wähler. Er kann endlich für das stimmen, was er denkt, ohne Rücksicht auf nationale Notlagen und seine eigenen unmittelbaren Interessen. Die EU scheint ein unbegrenzter Raum der Möglichkeiten zu sein, in dem solche „engen“ Gedanken und Motive keinen Platz haben.

Betrachtet man die Wahlkreisverteilung bei der EU-Wahl, wird deutlich: Frankreich war zwischen der Linksfront und der „Nationalen Kollektivbewegung“ alias Rassemblement national (RN) gespalten. Es galt das Verhältniswahlrecht, 31,4 Prozent der Stimmen bedeuteten also einen entsprechenden Anteil der französischen Sitze im EU-Parlament. Das war zwar keine Parlamentsmehrheit, wie jeder weiß, aber es war dennoch ein starkes Signal an ein Land, in dem bei nationalen Parlamentswahlen das Mehrheitswahlrecht gilt.

Liste mit den meisten Stimmen bei den EU-Wahlen, nach Wahlkreisen. Dunkelblau: Rassemblement National (RN) und Verbündete. Rot: Linke Parteien (später NFP). Lila: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains. (Quellen: Französisches Innen- und Überseeministerium, Toxicode, Sciences Po; France Info)

Nach britischem Wahlrecht hätte die RN eine Mehrheit erreicht

Dann kam die erste Runde der nationalen Parlamentswahlen, die der RN wollte und die Macron gewährte. Und die Franzosen stimmten immer noch mit überwältigender Mehrheit für das Rassemblement und seine Verbündeten. Es gab immer noch eine RN-Mehrheit in der Hälfte Frankreichs oder mehr. Der deindustrialisierte Norden und der „Große Osten“, der atlantische Südwesten und natürlich der mediterrane Süden waren RN-Territorium geworden. Nur Paris, einige andere Großstädte und einige ländliche Regionen zeigten andere Farben. In der Logik des französischen Systems konnte daraus alles Mögliche entstehen. Das Wahlsystem ist weniger klar als das britische, bei dem ein Wahlgang und eine einfache Stimmenmehrheit ausreichen. Hätte Frankreich dieses Mehrheitswahlrecht, hätte der RN seinen Gegnern eine Erdrutschniederlage zugefügt und selbst leicht eine absolute Mehrheit der Sitze gewonnen.

Liste mit den meisten Stimmen in der ersten Runde der Parlamentswahlen, nach Wahlkreisen. Dunkelblau: RN und Verbündete. Rot: NFP und verschiedene linke Parteien. Lila: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains und verschiedene rechte Parteien. Gelb: Regionalisten. (Quellen: Französisches Innen- und Überseeministerium, IGN, Sciences-Po; France Info)

Laut Prognosen hatte Le Pens Partei gute Aussichten auf eine absolute Mehrheit von rund 300 Sitzen. Das galt es zu verhindern. Die Entscheidung, einen Kandidaten zu wählen, der ideologisch weit vom eigenen entfernt ist, um einen anderen Kandidaten zu verhindern, der vermeintlich noch weiter entfernt ist, ist natürlich legitim. Die Frage ist nur, ob ein politischer Diskurs, der eine solche Entscheidung in den Vordergrund rückt, wirklich politisch legitim ist.

Die „Legitimität moderner Demokratien“ beruht der berüchtigten Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zufolge „auf den Prinzipien der Volkssouveränität, des Rechtsstaats und der (sozialen) Gerechtigkeit“. Von einer Legitimitätskrise könne dann gesprochen werden, wenn „(große) Teile der Bevölkerung an den Grundwerten oder der Rechtmäßigkeit des Handelns der Machthaber zweifeln“. Es sei daran erinnert, dass die Faesers und Haldenwangs in der großen Demokratie Deutschland den (ggf. „verfassungsschutzrelevanten“) Begriff der „Delegitimation des Staates“ fanden, der genau auf die wachsende Legitimitätslosigkeit der Politik – und mitunter auch des Staates – aus Sicht der Bürger reagiert. Das trotzige Verhalten vieler beruht nicht zuletzt auf den Vorlagen, die staatspolitische Akteure (man denke an den Bundespräsidenten, die Vizepräsidenten des Bundestages, natürlich auch Bundesregierung und Parlament) den Bürgern vorgeben. Eine gewisse Frustration ist hier nicht auszuschließen.

Die Linke gewann dank Macrons Verdienst

Wie steht es in Frankreich mit diesem Zusammenhang? Die Bemühungen von Emmanuel Macron und der Linken, ein Drittel der Wählerschaft von der politischen Macht auszuschließen, lösen bei diesem Drittel sicher keine Euphorie aus. Das gilt umso weniger, wenn man bedenkt, dass unter normalen Bedingungen des französischen Wahlrechts – ohne die provisorische Brandmauer-Koalition aus Macron und der extremen Linken – eine absolute Parlamentsmehrheit in Reichweite gewesen wäre. In dem Maße, in dem diese Prozesse des Aufbaus künstlicher „Abwehrbarrieren“ den Bürgern klar werden, wird die Legitimität der beteiligten Kräfte abnehmen. Und natürlich gibt es auch in Frankreich Anzeichen dafür.

Dass der RN im zweiten Wahlgang hinter den beiden anderen Wahlbündnissen nur Dritter wurde, liegt am Willen der Staatsführung – allen voran Emmanuel Macrons –, das Heft nicht aus der Hand zu geben, und zwar um praktisch jeden Preis. Dieser Preis bestand darin, die teils linksgrüne, teils linksradikale „Neue Volksfront“ zu unterstützen – bis zu ihrem unheimlichen, wenn auch noch begrenzten Wahlsieg dank des Stimmenkredits des „Mozart der Finanzwelt“ (Macron). Zusätzlicher Wahlbetrug oder Wahlmanipulation spielen in der französischen Diskussion übrigens keine Rolle. Das heißt nicht, dass sie nicht möglich wären.

Die Linksfront war natürlich leicht für dieses falsche Spiel der „gefälschten“ Stimmzettel zu gewinnen. Die Vergrößerung der eigenen Fraktion ist an sich ein gutes, immer vertretbares Ziel für politische Parteien. Aber die linken Politiker waren letztlich nur die nützlichen Helfer (vielleicht sogar Idioten?) der Führung im Élysée, die darauf bedacht waren, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Es war immer klar, dass Macron keine formelle oder inhaltliche Koalition mit den ultralinken Mélenchonisten bilden wollte. Und niemand wird ihn dazu zwingen können. Dies erklärt auch die quasi-aufrührerischen Übernahmevorschläge, die jetzt von APO-Genossen und allerlei roten Gewerkschaftsidioten in Erwägung gezogen werden – bis hin zu einer möglichen Sabotage der Olympischen Spiele.

Mélenchon als Systemstabilisator

Zudem zeigen nicht nur die juristischen Vorwürfe gegen Marine Le Pen, dass es das Rassemblement mit anderen Mächten zu tun hat als nur mit linken Parteien. Es ist die offizielle Klasse der Fünften Republik, die sich gegen den grundlegenden Wandel wehrt, den ein Sieg des RN bedeuten würde. Bürgerwohlfahrt statt Elitenwohlfahrt? Das ist in dieser ENA- und ENS-Republik (École nationale administrative und École nationale supérieure heißen die Ausbildungsstätten der staatlichen offiziellen Elite) nicht vorgesehen.

Die RN-Führung will sich in diesem nationalen Drama nicht darauf beschränken, die „Underdogs“ und „Rebellen“ zu spielen. Die Partei demonstriert nun ihre Loyalität zur Fünften Republik und ihrer Verfassung. Sie strebt einen demokratischen Machtwechsel an und ist bereit, noch etwas länger darauf zu warten. Sie distanziert sich so deutlich wie möglich von den Aufstandsfantasien der Linksfront.

Das Duell zwischen tiefem Staat und „France profonde“ geht weiter. In absehbarer Zukunft werden die Vertreter der Pariser Funktionärelite dem Volk gegenüber immer unsympathischer, wie die starken Ergebnisse von LFI und Rassemblement bereits zeigen. Eine Revolution ist dennoch nicht zu erwarten, solange man die einfachen Franzosen wirtschaftlich vor sich hin vegetieren lässt. Jeder Schritt nach unten auf der Wohlstandsleiter dürfte jedoch den politischen Protest und die angeblichen „Extremen“ oder „Radikalen“ stärken. Mélenchons „Rebellisches Frankreich“ erweist sich – ähnlich wie die vorhersehbare BSW in Deutschland – als Systemstabilisator, ebenso wie LFI-Vertreter an der beabsichtigten Zensur des privaten Freisenders beteiligt sind. CNeuigkeiten Der Rassemblement bleibt ein Ausdruck einer Unzufriedenheit der Bevölkerung, die viele Themen berührt. Der RN scheiterte weniger an seinem konkreten Programm als vielmehr an der politischen Verweigerung der großköpfigen französischen Elite. Sobald die Zügel der Wählerherde gelockert werden, werden auch die Stichwahlen in Frankreich anders ausfallen. Dann kann sich ein Potenzial entfalten, das – wie gesagt: nach allen Prognosen vor der ersten Runde – schon heute vorhanden war.

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