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Der normale Wahnsinn eines möglichen Atomkrieges

Der normale Wahnsinn eines möglichen Atomkrieges

Mann im Kontrollzentrum

Ein Haus voller Dynamit. Bild: © Netflix

Kathryn Bigelows packender Film zeigt die erschreckende Irrationalität des nuklearen Abschreckungssystems – trotz der besten Absichten aller Beteiligten.

Bevor der Film richtig beginnt, sieht man ein paar Sätze, weiß auf schwarz: „Am Ende des Kalten Krieges waren sich die Weltmächte einig, dass es dem Planeten mit weniger Atomwaffen besser gehen würde. Aber diese Ära ist jetzt vorbei.“

Dann beginnt ein Drama, wie es im Kino schon lange nicht mehr zu sehen war. Eine Rakete unbekannter Herkunft fliegt auf die USA zu, man weiß nicht, ob es ein Wahnsinnsakt Nordkoreas oder ein Angriff einer anderen Atommacht ist – diesen Moment hat niemand vorhergesehen. Es ist verrückt – man sitzt mit offenen Augen, höchst angespannt und von Spannung ergriffen im Kino und verfolgt die Möglichkeit des Weltuntergangs.

„Operation, vermassel das nicht“

Alles wird aus mehreren Perspektiven, auf unterschiedlichen Ebenen, in drei aufeinanderfolgenden Anläufen erzählt. Stellenweise ist der Eindruck dokumentarisch.

Erst am Ende ist die Perspektive auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten, den wir noch nie zuvor gesehen hatten, nur hinter ausgeschalteten Zoom-Bildschirmen zu hören. Zuvor spielt der Film bei der Sicherheitsbesprechung des Militärs, im strategischen Kommando „Stratcom“, dem Raum, den wir Kinozuschauer bereits aus Stanley Kubricks über 60-jährigem „Dr. Strangelove“ zu kennen glauben; Und davor sind Sie im Hauptquartier der Agentur im Weißen Haus, wo Warnungen erfasst und Schilder registriert werden, wo alle Signale zusammenlaufen und dann berechnet werden.




Ein Haus voller Dynamit. Bild: © Netflix


Plötzlich blinken rote Lichter, ein Alarm, eine Atomrakete scheint auf die USA zuzufliegen, gleichzeitig wird überlegt, woher sie kommt, wo sie wohl landen wird und wie man sie am besten abschießen kann, bevor es ernst wird, bevor sie den US-Luftraum erreicht: „Treffe eine Kugel mit einer Kugel“, wie man sagt, die Erfolgschance liegt bei 61 Prozent. „Nur“ 61 Prozent. Die Leute scherzen immer noch: „Operation, vermassel das nicht.“

Spielen Sie mit der Zeit

Hier beginnt alles in diesem Film. Wir lernen sehr schnell viele Menschen kennen, insgesamt sind es rund 15 Hauptcharaktere, die oft, aber keineswegs immer, von Stars gespielt werden: Rebecca Ferguson, Idris Elba, Jared Harris.

Es sind die klassischen Charaktere, die man aus dieser Art von Filmen kennt: die erschöpften, grauhaarigen Beamten, die immer ahnen, dass es so weit kommen würde; die sehr klugen, pflichtbewussten jüngeren Spitzenbeamten, die aus Loyalität und Patriotismus ihr Bestes geben; und die völlig unreflektierten jungen Bomberpiloten, denen der Todesstoß anvertraut wird.

Über allem wirken an den Wänden des Weißen Hauses die geschnitzten oder bemalten Gesichter von Jefferson und Lincoln, Roosevelt und Eisenhower, die ihnen nicht mehr helfen können, hilflos und teilnahmslos.

Dies ist kein Film, der eine klare Hauptfigur hat, sondern viele wichtige Charaktere. Es ist bemerkenswert, wie gut man sie in den wenigen Zeilen und der kurzen Zeit kennenlernt, die sie offensichtlich nur vom Regisseur bekommen.

Das Spiel mit der Zeit im Film ist unglaublich dicht, präzise und spannend. Die einzelnen Kapitel sind jeweils etwa 40 Minuten lang, die im Film gezeigte Zeit dauert jedoch nur etwa 20 Minuten. Das bedeutet, dass die Zeit durch parallele Erzählungen in die Länge gezogen und manchmal beschleunigt wird. Und dann wird alles immer verdichteter.

Dieses Spiel mit der Zeit ist auch eines mit der Wiederholung. Aber eine Wiederholung aus verschiedenen Perspektiven.

Formal betrachtet handelt es sich bei „A Room of Dynamite“, dessen Titel sich im Laufe des Films verdeutlicht, um ein zunächst fast dokumentarisch anmutendes Werk über das US-amerikanische System zur Abwehr eines Atomangriffs bzw. die Reaktion darauf.

Was passiert, wenn etwas Unverständliches passiert?

Es gibt seit langem ein Filmgenre, das man als „Atomfilm“ oder „Atomthriller“ bezeichnen könnte. Und in seiner nihilistischen Version, dem nuklearen Pornotyp. Wie der Orgasmus in einem Pornofilm enden solche Werke in Entladungen: Pilzwolken, idealerweise zu einem musikalischen Rhythmus orchestriert, zelebrieren den Genuss des schönen Weltuntergangs, Städte, die in Flammen aufgehen, Häuser, die im Nu vom Atomsturm ausgelöscht werden. Kathryn Bigelows Film ist nichts davon.

Doch was in diesem Film die Hauptrolle spielt, ist genau das, worüber sich Experten der nuklearen Kriegsführung und Nukleartechnik am meisten Sorgen machen: Was passiert, wenn vollkommen gute, wohlmeinende, rational handelnde normale Menschen in eine Situation geraten, in der etwas rational Unfassbares und Unverständliches passiert?

Die Unvermeidlichkeit und Unaufhaltsamkeit der Situation

Die Schauspieler haben nur 20 Minuten Zeit. Nicht nur, um eine Entscheidung zu treffen, sondern um herauszufinden, was vor sich geht und warum es passieren könnte. Über Alternativen nachdenken, miteinander diskutieren und abwägen.




Ein Haus voller Dynamit. Bild: © Netflix


Forscher von Abschreckungsstrategien und Theorien der nuklearen Kriegsführung orientierten sich bei ihren Modellen nie am Beispiel des Zweiten Weltkriegs – sie dachten immer an die Situation zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einen Krieg, den niemand wollte, niemand verstand, warum er überhaupt stattfand, und niemand einen Weg fand, den Prozess zu stoppen, sobald er im Gange war.

Der Film fängt genau diese Situation perfekt ein: Man sieht, was passiert und warum. Und die Unvermeidlichkeit und Unaufhaltsamkeit dieser Situation sind beängstigender als die nukleare Bedrohung selbst.

Jeder tut, was er tun soll; jeder macht alles richtig

Das ist das Erschreckende an diesem Film! In den letzten Jahrzehnten haben die Großmächte ein hochentwickeltes und komplexes System der nuklearen Abschreckung aufgebaut. Die Leute sind geschult, sie haben sehr streng regulierte Verfahren, die besagen: Wenn A passiert, dann tue B. Wenn C passiert, dann tue D.

Doch in Wirklichkeit ist das alles im Grunde genommen irrational: Wenn der erste Dominostein fällt, geht jeder seine Checklisten durch und befolgt die Abläufe, und eins führt zum anderen, und das Endergebnis ist die Zerstörung der Menschheit.

Jeder macht das, was er tun soll, jeder macht alles richtig. Der Präsident ist kein großer Junge, der das Weiße Haus als seinen persönlichen Greiftisch betrachtet, aber er ist ein verantwortungsbewusster, rational denkender Mensch, der in der Mitte der Gesellschaft steht und an Obama, Clinton, George Bush und den Älteren erinnert.

Aber die klare Botschaft dieses Films ist, dass das alles nicht reicht, dass es nicht funktioniert. Inmitten der nuklearen Eskalationsspirale kann man keine rationalen Entscheidungen treffen.

Beschleunigen statt nachdenken

Der in Magdeburg geborene US-Politikberater Paul Nitze, ein Abrüstungs- und Nuklearexperte, der für jede US-Regierung von Truman bis Reagan gearbeitet hat, beriet Ronald Reagan bei einem „Atom-Briefing“:

Reagieren Sie niemals. Was auch immer passiert. Es hat keinen Sinn, in Russland 200 Millionen Menschen zu töten.
(Vergelten Sie niemals. Was auch immer passiert. Es ist sinnlos, 200 Millionen Menschen in Russland zu töten.)

Das System der Verfahren im Falle eines Atomangriffs ist nicht darauf ausgelegt, Entscheidungen zu verlangsamen oder dem Präsidenten Gelegenheit zum Nachdenken, Nachdenken oder Innehalten zu geben. Dafür ist einfach keine Zeit. Vielmehr ist das System darauf ausgelegt, Entscheidungen zu beschleunigen, sie zu provozieren, die Wahl zwischen Entweder/Oder, zwischen mehreren Optionen, zu erleichtern.

Stellen Sie das Komplexe nicht als weniger komplex dar

Die amerikanische Regisseurin Kathryn Bigelow steht seit jeher für vermeintliches „Männerkino“: Sie drehte einen Vampirfilm, eine Surfergeschichte („Point Break“), einen U-Boot-Film, einen Serienmörder-Cyber-Science-Fiction („Strange Days“), mehrere Polizeithriller („Blue Steel“ und „Detroit“), einen Kriegsfilm („The Hurt Locker“) und ein Geheimdienstdrama („Zero Dark Thirty“). Alle diese Filme sind stark politisch engagiert und kritisch, aber auch voller Faszination für das jeweilige Thema.

Mit ihrem neuen Film „A House of Dynamite“ hat sich Bigelow nun des Politthrillers angenommen: Sie zeigt Beamten und welche individuellen Handlungsspielräume sie hier noch haben.

Man konnte aber auch erkennen, dass dieser Regisseur aus den Schützengräben ins Zentrum der Macht vordringt.

Die Filme ihrer USA-Trilogie „The Hurt Locker“, „Zero Dark Thirty“ und nun „A House of Dynamite“ gehen sozusagen ineinander über, und gleichzeitig distanziert sich Bigelow mit jedem Film ein wenig mehr von dem, was die Amerikaner „Ground“ nennen: dem Boden unter den Füßen, der Drecksarbeit. Das soll nicht heißen, dass diese Regisseurin den Boden unter den Füßen verliert, ganz im Gegenteil.




Ein Haus voller Dynamit. Bild: © Netflix


Der Regisseur strebt nach Authentizität; Sie möchte das Komplexe nicht unterkomplex darstellen. Bigelow selbst sprach in der Pressekonferenz zur Premiere in Venedig von „dreidimensionalem Schach“.

Bigelow hat einen gewissen Fetischismus für funktionierende Systeme und die detaillierte Beschreibung von Prozessen. Bigelow hat auch einen Fetischismus für das Handwerk. Es zeigt also einfach viele Menschen, die ihr Handwerk verstehen und das Handwerk dann entsprechend ihrer Ausbildung ausführen. Und wozu führt das?

„Willst du, dass die Schurken gewinnen?“

Die Parteizugehörigkeit der Charaktere wird im gesamten Film nicht preisgegeben. Das Interessante ist, dass wir hier in der Politik Falken und Tauben sehen, die gemeinsam agieren, die Rolltreppen und die Deeskalatoren. Denn das ist nicht das Entscheidende.

Es gibt nur einen Charakter, der eindeutig ein Diplomat und eine „Taube“ ist, der in der Lage ist, irgendwann mit dem russischen Außenminister zu telefonieren und der eindeutig eine Deeskalationshaltung vertritt.

Irgendwann wird er direkt vom Präsidenten um Rat gefragt:
„Willst du, dass wir kapitulieren? Und dass die Schurken gewinnen?“
Und er antwortet dem Potus ebenso direkt:
„Ja, Herr Präsident, das ist der Fall. Wenn Sie mich fragen, haben Sie genau die Wahl zwischen Kapitulation und Selbstmord.“

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Tatsächlich ist diese nukleare Situation, wenn man darüber nachdenkt, so absurd, dass sie nur Sinn macht, solange niemand tatsächlich angreift, und das hat im Kalten Krieg sehr gut funktioniert. Aber gleichzeitig macht es keinen Sinn, wenn jemand angreift.

Kino aktuell – aber zu amerikanisch

„A House of Dynamite“ ist handwerklich und filmisch perfekt. Das ist Kino auf dem neuesten Stand.

Bei aller Perfektion ist der Film bestenfalls zu US-zentriert in seiner Perspektive und in gewissem Sinne stilistisch zu gut, zu voll von der Ästhetisierung des militärisch-politischen Komplexes in Washington und der Behauptung der ultimativen Menschlichkeit der Schauspieler.

So herausragend Bigelows Film auch ist, er wagt es nicht, auch nur einen einzigen soliden Zyniker oder dämonischen Apokalyptiker zu zeigen. Kein harter, amoralischer Verteidiger von Leviathan, dem Gesetz des Stärkeren, der Menschen tötet, nur weil sie Feinde sind.

Kein Befürworter der apokalyptischen Zerstörung des Anderen im universellen Höllenfeuer trübt das Bild der gewissenhaften Handwerker der Macht.

Stattdessen sind alle Protagonisten und Charaktere in ihrem Film werteorientiert und verantwortungsbewusst in ihrem Handeln. Und damit bestätigen sie einmal mehr den amerikanischen Traum, der längst zerplatzt ist, auch wenn sein Kadaver bereits zum Himmel nach Verwesung stinkt.

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