Ob Miete, Erbschaft oder Kauf – was der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entscheidet, hat Folgen für den Alltag von Millionen Menschen. Der BGH begann seine Arbeit vor 75 Jahren.
Darf man als Mieter während der Mietzeit tatsächlich die Wände rot streichen? Es ist möglicherweise nicht die erste Frage, die einem in den Sinn kommt, wenn man über einen Obersten Bundesgerichtshof nachdenkt. Doch genau darüber hat der Bundesgerichtshof (BGH) bereits entschieden.
Ein Beispiel dafür, wie die Urteile des BGH im Alltag vieler Menschen eine Rolle spielen. Und das schon seit ziemlich genau 75 Jahren. Ob Miete, Kleingedrucktes im Kreditvertrag oder Autokauf: Über die Auslegung der Gesetze in Zivil- und Strafsachen entscheidet das oberste Gericht.
Alte Absätze, neue Fragen
An neuen Fragen zu alten Absätzen mangelte es nie. Die Erbschafts- und Erbschaftsregeln reichen beispielsweise bis ins Jahr 1900 zurück. Aber erbt man auch seinen Facebook-Account nach dem Tod eines Familienmitglieds? Als würde man ein Tagebuch erben? Ja, die Regeln rund um das Erbrecht gelten auch in der digitalen Welt, entschied der BGH 2018 – und brachte damit das Erbrecht ins digitale Zeitalter.
Eine wichtige Aufgabe des Bundesgerichtshofs ist die Gewährleistung der Rechtseinheit in ganz Deutschland. Beispielsweise in den zehntausenden Dieselklagen, die vor vielen deutschen Land- und Oberlandesgerichten anhängig waren und sind. Lange Zeit gab es viele unterschiedliche Entscheidungen. Einige Gerichte sagten: VW habe nicht vorsätzlich betrogen. Die anderen urteilten: Ja, VW muss grundsätzlich Schadensersatz zahlen.
Im Mai 2020 kam das Grundsatzurteil aus Karlsruhe, an dem sich alle unteren Instanzen orientieren. Die Richtlinie: VW ist zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, Kunden müssen sich jedoch für jeden gefahrenen Kilometer einen bestimmten Cent-Betrag von der Entschädigung abziehen lassen.
Kleine Fälle, große Wirkung
Im März 2025 standen etwa sieben Meter hohe Bambusbüsche an einer Grundstücksgrenze in Hessen. Ein Nachbarschaftsstreit, wie er in den Büchern steht. „Natürlicher Schutz der Privatsphäre“, argumentierten die Bambusfreunde. „Schatten für den Nachbarn“, wandten seine Gegner ein.
Rechtlich entscheidend: Wann ist eine Absicherung eine Absicherung? Der BGH definierte, dass die Pflanzen „als Einheit einen geschlossenen Eindruck“ bilden. Eine generelle Höhenbegrenzung für Hecken gibt es nicht. Das Ergebnis: Hecken an deutschen Grundstücksgrenzen dürfen nun mit gerichtlicher Genehmigung in die Höhe schießen. Zumindest wenn es im Nachbarrecht des jeweiligen Bundeslandes keine anderen Regelungen gibt.
Große Strafverfahren
„Der Angeklagte hat angekündigt, Berufung einzulegen“ oder „Die Staatsanwaltschaft will gegen das Urteil Berufung einlegen“: Immer wenn man so etwas hört, geht es um den zweiten Zuständigkeitsbereich des BGH: das Strafrecht. Der BGH ist auch das höchste Gericht in Deutschland in Strafsachen.
„In Berufung gehen“, was bedeutet: Der Fall wird vom Bundesgerichtshof auf Rechtsfehler überprüft. Ist dabei etwas schiefgelaufen? Und haben die Gerichte die Paragrafen zu Mord, Betrug oder „unbeabsichtigter Flucht“ richtig angewendet? Darüber werden dann die insgesamt sechs Strafsenate des BGH entscheiden. Zwei davon befinden sich übrigens nicht in Karlsruhe, sondern in Leipzig.
Der BGH hat im Laufe der Jahrzehnte in vielen großen Strafprozessen auf diese Weise entschieden, beispielsweise im Mannesmann-Prozess, im Fall Harry Wörz, in Prozessen gegen die Helfer des Anschlags in New York am 11. September 2001. Auch das NSU-Urteil überprüfte und bestätigte der BGH im Jahr 2021.
Karlsruhe gewann das Rennen 1950
Aber warum der Standort Karlsruhe? Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, herrschte ein heftiger Wettbewerb um den Sitz der Obergerichte. Der Favorit des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer war seine Heimatstadt Köln. Auch Kassel und Frankfurt waren im Rennen.
Die feierliche Eröffnung mit Bundespräsident Theodor Heuss fand am 8. Oktober 1950 in Karlsruhe statt. Genauer gesagt, im erbgroßherzoglichen Palais, in dem der BGH noch heute seinen Sitz hat – im Laufe der Zeit um eine ganze Reihe weiterer Gebäude erweitert.
In den Nachkriegsjahren punktete Karlsruhe unter anderem dadurch, dass es mit dem Schloss ein gut ausgestattetes Gebäude sowie 80 bezugsfertige Wohnungen für die vielen neuen Bundesrichter anbieten konnte.
1951 kam auch das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe, nur einen Steinwurf entfernt. Es handelt sich nicht um eine klassische „andere Instanz“. Fühlen sich Bürger durch den Staat in ihren Grundrechten verletzt, können sie nach dem gerichtlichen Verfahren dort Verfassungsbeschwerde einreichen.
Derzeit gibt es 151 BGH-Richter, aufgeteilt in 13 Zivilsenate und 6 Strafsenate. Beim Bundesverfassungsgericht gibt es 16. Zwei BGH-Strafsenate haben ihren Sitz in Leipzig, die anderen in Karlsruhe.
Am Anfang gab es viele JurorenNazi-Vergangenheit
Die Besetzung der Richterbänke in den ersten Jahrzehnten war eine Art Spiegelbild der Nachkriegsgesellschaft. Zahlreiche BGH-Richter hatten eine NS-Vergangenheit. Aber es gab kein Bewusstsein dafür. 1957 enthüllte der damalige BGH-Präsident Hermann Weinkauff eine Gedenktafel für Mitglieder des ehemaligen Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft.
Mittlerweile ist bekannt, dass viele von ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus an ungerechtfertigten Strafen beteiligt waren. Allerdings gab es solche Netzwerke beim BGH nicht mehr – das ist das Ergebnis einer 2024 veröffentlichten Bestandsaufnahme der Anfangsjahre des Bundesgerichtshofs. Mit der Analyse beauftragte BGH-Präsidentin Bettina Limperg zwei Wissenschaftler.
Dennoch waren die frühen BGH-Richter noch sehr konservativ. Und auch das bestätigen die Forscher: Dem BGH gelang es zu Beginn nicht, sich mit der NS-Justiz auseinanderzusetzen. Kein einziger Richter, der damals an Todesurteilen beteiligt war, wurde zur Rechenschaft gezogen.
Der Bundesgerichtshof beschäftigte sich in den letzten Jahren immer wieder mit der Frage: Wie soll strafrechtlich mit Menschen umgegangen werden, die während der NS-Gräueltaten in Konzentrations- oder Vernichtungslagern gearbeitet haben?
Im Jahr 2024 bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil gegen eine ehemalige Stenotypistin im KZ Stutthof wegen Beihilfe zu Tausenden von Morden. Der Frau wurde nicht vorgeworfen, aktiv an Tötungen beteiligt gewesen zu sein, etwa an der Schießerei oder dem Betrieb der Gaskammer im Lager. Sie habe aber, so die Richter, den Lagerkommandanten und seinen Adjutanten bei der Ermordung physisch und psychisch unterstützt.
Von der Radiosendung bis zum Livestream
Das Interesse der Medien am BGH war von Anfang an vorhanden. 1952 entstand im Karlsruher Studio des damaligen „Süddeutschen Rundfunks“ die Radiosendung „Aus der Residenz des Rechts“. Die Show gibt es noch heute, jetzt unter dem Namen ARD-Hörfunkbeitragsgesetz. Unzählige Berichte für sie tägliche Nachrichtenkamen im Laufe der Jahrzehnte hinzu.
Seit 2018 erlaubt das Gesetz den Medien, die Urteile aller obersten Bundesgerichte zu filmen oder sogar live zu übertragen. Mehr als 200 Videos der Urteilsverkündung in voller Länge sind jetzt auf dem YouTube-Kanal von Phoenix verfügbar.
Und was ist mit der roten Wand in der Mietwohnung? Mieter dürfen die Wände während der Mietzeit in jeder gewünschten Farbe streichen. Am Ende, wenn Sie ausziehen, müssen Sie die Wohnung wieder in einen normalen Zustand versetzen, damit der Vermieter sie problemlos vermieten kann. Das hat der BGH entschieden.
