Mit einem ungewöhnlich dramatischen Appell rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bürger dazu auf, die Demokratie gegen rechtsextreme Kräfte in Deutschland zu verteidigen. Nie zuvor in der Geschichte des wiedervereinten Deutschlands waren Demokratie und Freiheit so stark angegriffen wie heute. „Es ist an der Zeit, dass wir uns den Gefahren ohne Illusionen stellen“, sagte Steinmeier bei einer Veranstaltung zum Gedenktag am 9. November. „Wir dürfen nicht in eine neue Autoritarismus-Faszination und dann in eine neue Unfreiheit abgleiten, und dann sagen alle: ‚Das wollten wir nicht.‘“
Ohne die AfD namentlich zu nennen, forderte Steinmeier, die Sperrmauer aufrechtzuerhalten und jegliche Zusammenarbeit mit rechtsextremen Parteien zu vermeiden. Er forderte Berufsverbote für rechtsextreme Beamte und eine Diskussion über ein Parteiverbot. Er warnte aber auch die Mitte-Links-Parteien davor, unangenehme Äußerungen sofort als rechtsextremistisch zu brandmarken. Steinmeier forderte dringend zum Handeln: „Es reicht nicht aus, nur darauf zu warten, dass der Sturm vorüberzieht, und so lange wie nötig Schutz zu suchen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
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Es gehe nun um die Selbstbehauptung der Demokratie: Aktive Demokraten sollten „den Mund aufmachen, im Parlament, beim Fußball, am Stammtisch, in der Schule, an der Bushaltestelle und am Arbeitsplatz.“ Kritik ist in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern notwendig. „Aber wer sich in den Extremismus flüchtet, verliert jede Chance zur Teilhabe.“
Capital Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE-Zentralredaktion
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Das sagte Steinmeier am Sonntag bei einer Matinee im Schloss Bellevue anlässlich des 9. Novembers – jenes Schicksalstages für die Deutschen, an dem an den Fall der Berliner Mauer vor 36 Jahren ebenso erinnert wird wie an die antisemitischen Novemberpogrome 1938 und die Ausrufung der ersten Deutschen Republik 1918. Der 9. November sei ein Tag „des tiefsten Abgrunds und der glücklichsten Stunden unseres Lebens“. Geschichte“, sagte das Staatsoberhaupt. Der Zustand der Demokratie und der bröckelnde Zusammenhalt der Gesellschaft sind seine Themen, seit er 2017 Bundespräsident wurde. Doch noch nie war Steinmeier so deutlich. Die wichtigsten Punkte:
Das Drehbuch der Antidemokraten
Demokratie und Freiheit werden durch die russischen Aggressoren und durch rechtsextreme Kräfte, die in der Bevölkerung an Unterstützung gewinnen, bedroht. Extreme Parteien werden stärker, Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder Juden sind nicht mehr sicher. Populisten und Extremisten verspotteten demokratische Institutionen, vergifteten Debatten und betrieben ein Geschäft aus Angst, sagte das Staatsoberhaupt. „Das Tabu, solche Radikalität offen zu bekennen, gilt für viele Menschen nicht mehr. Das Drehbuch der Antidemokraten, so scheint es uns manchmal, funktioniert mühelos.“ Aber die Demokratie kann sich verteidigen. Die Bürger sollten gemeinsam für die Selbstbehauptung von Demokratie und Menschlichkeit eintreten: „Lasst uns nicht verraten, was uns ausmacht“, sagte Steinmeier. „Lasst uns tun, was getan werden muss.“
Steinmeier: Parteiverbot diskutieren
Ein Parteienverbot ist die Ultima Ratio einer wehrhaften Demokratie. Ohne die AfD beim Namen zu nennen, warnte der Präsident die Partei: „Unsere Verfassung ist klar: Eine Partei, die den Weg des aggressiven Verfassungsfeindlichkeitismus beschreitet, muss immer mit der Möglichkeit eines Verbots rechnen.“ „Gruppen vom rechten Rand“, die ein Parteienverbot als undemokratisch bezeichneten, hatten es selbst in der Hand, ob sie die Verfassung ablehnten oder sie respektierten. Steinmeier forderte nicht explizit ein Verbot der AfD. Es ist nicht die „alles entscheidende Frage“. Die rechtlichen Hürden für ein Parteiverbot sind hoch; Die Anforderungen müssen geprüft und abgewogen werden. Es muss eine politische Debatte darüber geben, wann und ob dies angemessen oder sogar unumgänglich ist.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender sind am Sonntag zu einer Veranstaltung zum Gedenktag am 9. November im Schloss Bellevue eingetroffen.
© AFP | Maryam Majd
Firewall muss halten
Auf keinen Fall sollte man tatenlos zusehen, bis die Frage des Partyverbots geklärt ist. Es sei eine bleibende Lektion der Geschichte: „Es sollte keine politische Zusammenarbeit mit Extremisten geben. Nicht in der Regierung, nicht in den Parlamenten.“ Wenn dadurch ein Teil des demokratisch gewählten Parlaments von der Gestaltung ausgeschlossen wird, dann ist dieser Ausschluss selbstgewählt. „Und jeder hat, wenn er die Regeln akzeptiert, die Möglichkeit, auf das demokratische Spielfeld zurückzukehren, dort aktiv zu werden und Wirkung zu entfalten“, sagte der Präsident. „Der gewagte Versuch, Antidemokraten durch Machtüberlassung zu bändigen, scheiterte nicht nur in Weimar.“
Neben Unvereinbarkeitsbeschlüssen und Brandmauern bedarf es auch der Distanzierung zur Sprache und den Feindbildern der Rechtsextremisten. Vielerorts in Europa verbinden rechtsextreme Parteien harte Opposition gegen das System mit Selbstverharmlosung; In Deutschland würden sie sich dem Zentrum als Partner anbieten, der aus den gleichen Wurzeln stammt. „Niemand sollte auf diese Behauptung hereinfallen.“ Zivilpolitik mit ihrer Einstellung zu Freiheit, Gemeinschaftsgefühl, Vernunft und Augenmaß unterscheidet sich grundlegend vom Extremismus.
„Extremisten bringen Feindseligkeit in das gesellschaftliche Leben und zerstören das Vertrauen in die Gesellschaft – Zivilpolitik schafft Vertrauen und schafft Zusammenhalt.“ Extremisten setzen auf Spaltung, scheuen sich vor praktikablen Lösungen und vertreten grundsätzlich eine menschenfeindliche Ideologie. „Extremistisch und bürgerlich: Das sind elementare Gegensätze.“ Den Versprechen autoritärer Führung hätten die Demokraten einiges entgegenzusetzen, sagte Steinmeier: Freiheit, Menschlichkeit und Stolz auf Deutschland und alle seine Menschen, egal ob sie eingewandert oder hier geboren seien. Steinmeier sprach von einem „Patriotismus der leisen Töne“.
Überlassen Sie die Themen nicht den Rechtsextremisten
Die Mitte-Rechts-Politik werde die Hauptlast der Abgrenzung tragen, sagte Steinmeier mit Blick auf die Unionsparteien. Aber auch die Mitte-Links-Politik – also SPD und Grüne – trage eine „Verantwortung im rechten Ausmaß“. Steinmeier warnte sie: „Es nützt wenig, jede unangenehme Äußerung pauschal als ‚rechtsextremistisch‘ zu diskreditieren. Es ist nicht nur unklug, ihnen bei jeder Gelegenheit vorzuwerfen, dass sie ein gemeinsames Lager mit Rechtsextremisten haben, sondern sie rütteln damit auch auf andere Weise an der Brandmauer – auch bei sich selbst.“ Es ist gefährlich, wenn Themen wie Migration und Sicherheit nicht diskutiert werden können, weil sofort Rassismusvorwürfe laut werden. Das würde bedeuten, der Rechten die Hegemonie über Themen zu geben, die die Gesellschaft beschäftigen und verunsichern. Demokraten sollten nichts zurücklassen und nicht verbergen, wo Maßnahmen ergriffen werden müssen. Dafür brauche es stabile Mehrheiten in handlungsfähigen Parlamenten, mahnte Steinmeier – eine Absage an Überlegungen in der Union, notfalls Minderheitsregierungen auf Bundes- oder Landesebene zu bilden.
Steinmeier: Den Rechtsstaat verteidigen
„Der Rechtsstaat ist von entscheidender Bedeutung für die Verteidigung der Demokratie“, sagte Steinmeier. Es ist kein Zufall, dass Angriffe auf die Demokratie oft mit Angriffen auf die Justiz beginnen – Steinmeier verwies auf Beispiele in Nachbarländern; er bezog sich offenbar auf Ungarn und Polen unter der vorherigen PiS-Regierung. Daher muss Eingriffen in die Unabhängigkeit der Justiz unverzüglich begegnet werden. Grundgesetz und Strafrecht stellen die Instrumente zum Schutz der Freiheit dar. Der Rechtsstaat darf vor der Aufstachelung zum Hass, der Verbreitung von Hass gegen Minderheiten oder NS-Gedanken und ähnlichen Verbrechen nicht zurückschrecken.
Berufsverbot für Verfassungsfeinde
Aufgrund historischer Erfahrungen muss verhindert werden, dass erklärte Demokratiegegner erneut in politische und öffentliche Dienstleistungszentren – insbesondere Polizei und Bundeswehr – eindringen können. Beamte müssten politisch neutral, aber der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung verpflichtet sein. Wer in Kommunalverwaltungen, bei der Polizei oder beim Militär, als Lehrer an Schulen oder Universitäten tätig ist, muss für unsere Werte eintreten. „Wer sich dem freiheitlichen Kern unserer Verfassung widersetzt, kann nicht Richter, Lehrer oder Soldat sein. Auch Verfassungsfeinde können von der Wahl zum Landrat oder Bürgermeister ausgeschlossen werden“, sagte Steinmeier.
Ein solcher Ausschluss ist nicht grundsätzlich undemokratisch, sondern Ausdruck einer starken Demokratie. Damit mischt sich Steinmeier in eine Diskussion über mögliche Konsequenzen für AfD-Mitglieder im öffentlichen Dienst ein, wenn die Einstufung der gesamten Partei als eindeutig rechtsextremistisch durch das Bundesamt für Verfassungsschutz vor Gericht bestätigt wird: Die Innenminister der Länder denken bereits über ein einheitliches Vorgehen in diesem Fall nach, erste Länder haben entscheidende Konsequenzen für den öffentlichen Dienst angekündigt. In Ludwigshafen wurde der AfD-Kandidat von der Oberbürgermeisterwahl ausgeschlossen.
Jugendschutz in sozialen Medien
„Über die Zukunft unserer Demokratie wird online entschieden“, sagte der Präsident. Lügen, Demagogie, Hetze, Spott und Hass, die im Internet und in den sozialen Medien millionenfach verbreitet werden, sind zu einer Gefahr für die Demokratie geworden. Gelingt es nicht, neue Spielregeln umzusetzen, wären die konstitutiven Voraussetzungen der Demokratie gefährdet. Die Algorithmen förderten Empörung, Polemik und Aufruhr und schürten Angst und Wut. „Sie beschädigen das Vertrauen in rationale Argumente und demokratische Politik, sie radikalisieren Menschen, befeuern Extremismus und fördern Gewalt. Es ist höchste Zeit, dieser Gefahr wirksam zu begegnen: Deshalb darf die Debatte um den Schutz junger Menschen vor sozialen Medien nicht zu lange dauern oder ins Leere laufen.“ Wir brauchen wirksame Regulierung und intelligente Instrumente, die uns zusammenbringen, statt uns auseinanderzutreiben. „Wenn wir unseren Anspruch durchsetzen, demokratische Regeln im Internet durchzusetzen, dann wird sich auch die Demokratie durchsetzen“, sagte der Bundespräsident.
